Ukraine-Krieg: Das Versagen der Diplomatie

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Ukraine-Krieg: Das Versagen der Diplomatie

ukraine-krieg: das versagen der diplomatie

Mit Pistolen beschenkt: Zeremonie in Putins Amtssitz für Angehörige des russischen Militärs, die am Angriffskrieg gegen die Ukraine beteiligt waren. Gavriil Grigorov/Kremlin Pool

Der frühere russische Gesandte Boris Bondarew erinnert sich an die Zeit nach dem Angriff auf die Ukraine. In seinem Buch schildert er seine Gefühle und den Bruch mit Putin. Ein Auszug.

Bereits an diesem Morgen des 24. Februar wusste ich, dass ich meine Kündigung einreichen würde. Ich sah mich außerstande, für diesen Staat weiterzuarbeiten. Die russische Regierung hatte schon so manche Verbrechen begangen, über die ich – zu meinem heutigen Bedauern – hinweggesehen hatte, doch mit diesem Krieg war für mich eine rote Linie überschritten und ein Verbleib im Staatsdienst durch nichts mehr zu rechtfertigen.

Da ich noch nicht wirklich glauben konnte, was geschehen war, fehlte mir die letzte Entschlossenheit, noch am selben Tag mein Kündigungsschreiben aufzusetzen. Stattdessen fuhr ich zur Arbeit und betrat dort sofort das Büro meines Chefs. Dieser machte auf mich einen verlorenen Eindruck – und wahrscheinlich wirkte ich genauso auf ihn. Als erfahrener, hochrangiger Diplomat der Ständigen Vertretung Russlands in Genf wusste er vermutlich nur zu gut, dass Putins „militärische Sonderoperation“ das Ende der normalen Diplomatie bedeutete, einer Diplomatie, die auf Dialog beruht, auf der Fähigkeit einander zuzuhören, die Meinung des Gegenübers zu berücksichtigen und Kompromissentscheidungen zu treffen. Sicher, auch in den Jahren zuvor hatte die russische Diplomatie – ohne einen großen Krieg zu führen – so gut wie jeden Kompromiss abgelehnt und dabei versucht, ihre Position auf grobe, ja plumpe Art und Weise durchzusetzen. Aber wenigstens war der Dialog nie abgebrochen.

Der Krieg ist das Versagen der Diplomatie. Aber es wäre falsch zu behaupten, der Grund für die „militärische Sonderoperation“ liege darin, dass russische, ukrainische und westliche Diplomaten nicht in der Lage gewesen wären, einen Kompromiss zu finden. Im Gegenteil: Dieser Akt war nichts anderes als Russlands bewusste, vorsätzliche Weigerung, den Konflikt mit der Ukraine diplomatisch zu lösen.

Putins Ziel ist es, sich selbst, den Russen und der ganzen Welt seine Stärke zu beweisen

Putin will offensichtlich keine friedliche Lösung. Ich denke, sein Ziel ist es, sich selbst, den Russen und der ganzen Welt seine Stärke zu beweisen und somit seine Forderung zu unterstreichen, dass man bei der Lösung jeglicher globalen Probleme seine Position zu berücksichtigen hat. Im Grunde geht es ihm bei alledem um eine Revanche für den so schmerzhaft empfundenen Zusammenbruch der Sowjetunion, darum, die bewährten Regeln der internationalen Beziehungen neu zu schreiben. Ein schneller militärischer Sieg über die Ukraine, in Tempo und Ausmaß gleichermaßen niederschmetternd, würde die ganze Welt zwingen, Russland und seinen unabsetzbaren Führer in neuem Licht zu sehen.

Nachdem ich das Dienstzimmer meines Vorgesetzten verlassen hatte, ohne von ihm eine klare Stellungnahme zum aktuellen Geschehen zu erhalten, betrat ich das Büro, in dem unser Referat für Abrüstungsfragen residierte. Dort besprach unser Team wie jeden Morgen bei einer Tasse Kaffee das politische Geschehen und die eigenen Arbeitspläne. An diesem Tag schmeckte meine Nespresso-Kapsel besonders schal: Mich deprimierten nicht nur die Nachrichten selbst, sondern auch das anhaltende zufriedene Grinsen vieler Kollegen. Die meisten von ihnen kamen aus dem Militär oder den Geheimdiensten und sahen in dem Geschehen nichts anderes als eine Machtdemonstration ihrer geliebten Heimat. Gewaltsame Lösungen waren für sie das beste und effektivste Mittel. Über die schneidigen Berichte der russischen Medien freuten sie sich wie Kinder und diskutierten begeistert, dass „wir es den Amerikanern mal wieder zeigen“ würden.

Meine Kollegen wussten doch nur zu gut, wozu Atomwaffen in der Lage sind

Es ist mir ein Rätsel, wie sich diese gebildeten und informierten Menschen über den Ausbruch des Krieges freuen konnten. Meine Kollegen wussten doch nur zu gut, wozu Atomwaffen in der Lage sind, schließlich diskutierten wir bei den Vereinten Nationen in Genf ständig diese Frage. Und natürlich dachte ich an nichts anderes, als Putin sagte: „Wir werden die Interessen Russlands mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln schützen.“ Wenn jemand, der mit Politik und Staatsdienst nichts am Hut hat, unter dem Einfluss von Hetze und Propaganda zu der Überzeugung gelangt, dass wir nur einem Angriff der Ukraine und der Nato auf uns zuvorgekommen sind, so kann ich das noch irgendwie verstehen. Aber wie lässt sich ein derart naiver Glaube an die „Weisheit“ unserer ewigen politischen Führung bei erfahrenen Diplomaten und gestandenen Ministerialbeamten erklären?

Während meine Kollegen bereits von einer Siegesparade unserer Streitkräfte durch Kyjiw schwärmten, verbarg ich weder meine Zweifel, noch meine Besorgnis angesichts einer mehr als wahrscheinlichen Eskalation dieses Krieges. Ich sagte offen, dass Russlands militärisches Potenzial es mit den Vereinigten Staaten – vom gesamten Westen ganz zu schweigen – niemals aufnehmen könne. Die USA könnten, wenn sie wollten, ihre Waffenproduktion innerhalb relativ kurzer Zeit deutlich hochfahren, wohingegen unsere Fähigkeiten in dieser Hinsicht nur sehr begrenzt sind. Nicht zu vergessen die enorme Abhängigkeit der russischen Industrie von Importkomponenten.

Zu Person und Buch

Boris Bondarew , geboren 1980, ist ein früherer russischer Diplomat. Er arbeitete von 2019 bis 2022 in der russischen Gesandtschaft beim Büro der Vereinten Nationen in Genf. Im Mai 2022 stieg er aus Protest gegen Russlands Angriff auf die Ukraine aus dem diplomatischen Dienst aus.

In seinem Buch, im Februar erschienen, verarbeitet er diesen Schritt. Er schildert und kommentiert darin aber nicht nur seinen persönlichen Werdegang, sondern auch die Entwicklung Russlands – und gibt Einblicke in die russische Diplomatie und Außenpolitik.

„Der Westen wird sich niemals einmischen“, entgegnete ein Kollege im Brustton der Überzeugung. „Die werden sich hüten, wenn sie sehen, wie entschlossen wir sind. Und die Ukrainer werden die Beine in die Hand nehmen, gegen unsere Armee sind sie doch völlig chancenlos. Schon nächste Woche werden uns die Yankees eine neue Regelung und neue Sicherheitsgarantien anbieten. Das läuft alles wie geschmiert.

Nicht alle Mitarbeiter der Ständigen Vertretung in Genf waren in gleichem Maße überzeugt von einem schnellen Sieg. Vor allem freuten sich natürlich die Militärangehörigen, aber auch – was besonders bitter war – unsere jüngeren, weniger erfahrenen Mitarbeiter. Offenbar waren diese noch nicht in der Lage, Informationen wirklich kritisch zu beurteilen, weshalb sie sich einfach der offiziellen Position anschlossen und der Meinung der dienstälteren Kollegen vertrauten. Schon weniger glücklich kamen mir die eher konformistisch eingestellten Mitarbeiter vor, die nie eine eigene Meinung hatten (oder diese nicht offen vertraten).

Und natürlich reagierte nicht nur ich auf die jüngsten Ereignisse schockiert und deprimiert. Viele meiner Kollegen empfanden dasselbe wie ich, ich glaube, sogar Botschafter Gatilow. Als ich ihm kurz nach Kriegsausbruch begegnete, verriet sein Gesicht weder Freude noch Begeisterung. Das Ende seiner Karriere – er stand kurz vor der Pensionierung – hatte er sich sicher anders vorgestellt. All diese unterschiedlichen Emotionen, von Jubel bis Entsetzen, hatten auf unsere Arbeit nicht die geringste Auswirkung. Selbst wenn man kategorisch anderer Meinung war, hatte man zu schweigen und nach außen hin in die allgemein aggressive Rhetorik einzustimmen. Anders ist es in Russland unmöglich, im diplomatischen Dienst zu arbeiten – heute mehr denn je.

Ich wollte vor mir selbst als Mensch dastehen, nicht als gesichtsloser Beamter

Eine Kollegin, die ich als durchaus andersdenkend bezeichnen würde, wiederholte immer wieder den Satz: „Was können wir schon tun?“ Aber einfach weiter zur Arbeit zu gehen war schlicht peinlich. Mir war klar: Es genügte nicht, meine Kündigung stillschweigend einzureichen. Ich wollte meine Haltung als Staatsbürger deutlich machen, wollte zeigen, dass nicht alle Diplomaten willenlose Rädchen im System waren, dass man trotzdem versuchen konnte, „etwas zu tun“. Ich wollte vor mir selbst als Mensch dastehen, nicht als gesichtsloser Beamter, dessen Meinung niemanden interessiert, weil ihm eine solche nicht zusteht. Ich schämte mich, dass ich, wenn ich mir in meinen 20 Dienstjahren hin und wieder erlaubte, Skepsis zu äußern, dies immer nur so leise getan hatte, dass es den Zorn der Obrigkeit nicht erregte.

Ich wollte meine Berufsehre wahren. Professionalität bedeutet für mich nicht nur, gute Arbeit abzuliefern, sondern auch meine Selbstachtung nicht zu verlieren, mir bewusst zu sein, dass ich etwas kann, etwas weiß und einen guten Ruf habe. Ein professioneller Diplomat kann nicht erst die Reduzierung von Atomwaffen fordern und dann aufgrund einer – reichlich vage beschriebenen – äußeren Bedrohung deren möglichen Einsatz gutheißen. Da ein systemtreuer Diplomat in Russland heute aber nur das verlautbaren kann, was Moskau billigt, hätte ich meine fachliche Meinung ändern müssen. Ich, der ich stets den Abzug amerikanischer Atomwaffen aus Europa gefordert hatte, hätte behaupten müssen, die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus diene nur dem Schutz unserer Interessen und führe nicht zu einer Eskalation.

Dieser Krieg ist ein gewaltiger Fehler Putins

Als Diplomat war ich es gewohnt, meine persönliche Meinung so vorsichtig wie möglich zu formulieren. Also postete ich am ersten Tag des Krieges auf meiner Seite in VK (dem russischen Facebook) – nur für meine Freunde sichtbar – ein Porträt des einstigen französischen Polizeiministers Joseph Fouché. Dieser hatte auf Napoleon Bonapartes Befehl, den Herzog von Enghien zu verhaften und zu erschießen, mit dem berühmten Satz geantwortet: „Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler!“ Dieser Satz beschreibt für mich in überaus treffender Weise das Wesen des Angriffs auf die Ukraine, denn auch dieser ist zweifellos ein Verbrechen: gegen die Ukraine, gegen Russland, gegen den Frieden sowie gegen jegliche Grundsätze internationaler Beziehungen, für die sich die sowjetische und russische Diplomatie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat.

Dieser Krieg ist aber auch ein gewaltiger Fehler Putins, der Russland schon jetzt Zehn- oder sogar Hunderttausende Menschenleben gekostet hat, der im Lauf der Zeit nur noch teurer werden und das Land schlussendlich in die völlige Isolation und den Ruin treiben wird. Putin hat nicht nur die Perspektiven seiner eigenen Herrschaft drastisch reduziert, sondern auch das Ende jenes Russlands eingeläutet, das uns vertraut war und das – trotz immer weiter angezogener Daumenschrauben – Menschen mit anderen Ansichten und Meinungen nach wie vor eine Heimat bot. Am 24. Februar 2022 hat sich Russland für immer verändert.

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