Frank-Walter Steinmeier bei Recep Tayyip Erdoğan: Da ist eine Türkei jenseits seiner Macht
Bei den Kommunalwahlen vor knapp vier Wochen erlebte der türkische Präsident Erdoğan seine wohl größte politische Niederlage. Und jetzt? Der Besuch von Bundespräsident Steinmeier sollte Anlass dafür sein, die Türkei politisch neu zu entdecken.
Frank-Walter Steinmeier bei Recep Tayyip Erdoğan: Da ist eine Türkei jenseits seiner Macht
Was für eine Türkei wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier heute bei seinem Staatsbesuch vorfinden? Eine, in der sich nichts, und sich irgendwie doch alles verändert hat.
So fasste kurz nach den Kommunalwahlen vor knapp vier Wochen das italienische Staatsmedium Rainews die Lage im Land zusammen. Die Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan regiert nach wie vor, und auch er ist immer noch Staatspräsident, vor einem Jahr erst im Amt bestätigt, das schon. Die nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stehen erst 2028 an. Aber Erdoğans Partei hat eine empfindliche Niederlage, wahrscheinlich die empfindlichste in seiner politischen Karriere, einstecken müssen.
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Und was für einen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wird Steinmeier treffen? Einen angeschlagenen Kämpfer, dem klar geworden sein dürfte, vielleicht erstmals seit langer Zeit, dass es eine Türkei jenseits seiner Macht gibt.
Fantasie für eine neue Türkeipolitik
Erdoğan wollte vor allem Istanbul zurückgewinnen. Hat aufs Protokoll gepfiffen und als Präsident Wahlkampf für »seinen« Kandidaten gemacht. Allein das altbewährte Rezept, wonach der »große Meister« spricht und die Massen Folge leisten, hat nicht funktioniert. Vor allem nationale Themen wie die Verarmung aufgrund der hohen Inflation standen im Vordergrund, damit auch die Forderung nach einem Leben in Würde. Und wenn es um ein Leben in Würde geht, sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht weit entfernt.
Was sollte nun die deutsche Politik mit diesen Erkenntnissen anfangen? Zuallererst einmal den Gedanken zulassen, dass nicht einmal ein Erdoğan einen autoritären Kurs auf ewig festlegen kann. Fantasie dafür entwickeln, wie eine kluge deutsche und europäische Türkeipolitik in Zukunft aussehen könnte, in der Welt, wie sie sich jetzt gerade ordnet. Sich wieder mehr für das Land interessieren, das wäre auch eine Maßnahme, nicht nur für seine geopolitische Lage und Bedeutung, sondern auch für seine Gesellschaft. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sein Land ohne Frage tief geprägt – aber er ist nicht sein Land. Ausgerechnet Kommunalwahlen sollten daran erinnern.
Der Besuch des deutschen Bundespräsidenten könnte der passende Anlass dafür sein, den Blick für die Menschen des Landes zukünftig wieder zu schärfen. »Auch wenn politische Parteien und Führer die Hoffnung in die Demokratie verlieren, Bürgerinnen und Bürger tun es nicht«, schrieb kürzlich Ekrem İmamoğlu, der alte und neue Istanbuler Bürgermeister und aufgehender politischer Stern der Türkei, im britischen »Economist«. Der menschliche Austausch, ob privat oder auf der zivilgesellschaftlichen Ebene, sollte erleichtert werden.
Warum Türken verwehren, was Deutschen selbstverständlich ist?
Deshalb gehört die lange vernachlässigte Visaliberalisierung auf den Tisch. Es war und ist, Erdoğan hin Erdoğan her, vollkommen unverständlich, warum Türkinnen und Türken verwehrt wird, was für deutsche Staatsbürger Sommerferien um Sommerferien eine Selbstverständlichkeit ist: Die unbürokratische Einreise für 90 Tage. Es wirkt wie ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, wenn etwa Geschäftsleute Messetermine verpassen, weil ihr Antrag noch nicht bearbeitet ist oder gar abgelehnt wird. Ähnliche Geschichten waren zuletzt von Künstlern und Musikern zu lesen, die Konzerte absagen mussten. Damit ist nichts gewonnen. Das einzige Problem dieser Leute bei einer Reise nach Deutschland sollte das Geld fürs Flugticket sein. Die Sorge, dass der türkische Präsident eine Erleichterung als Erfolg verbuchen könnte, wirkt mittlerweile abgedroschen – und wenn schon? Das wäre verschmerzbar, weil auf der anderen Seite ein attraktives Versprechen steht: Die Wiederherstellung einer Nähe zu Europa, das in der Türkei vielleicht doch nicht allein ein Auffanglager für unerwünschte Geflüchtete sieht, sondern ein Land, in dem Millionen von Bürgerinnen und Bürgern wieder stolz sein wollen auf ihre demokratische Tradition.
Wie nach nahezu jeder Wahl fragen sich auch jetzt viele Beobachterinnen und Beobachter, wie Erdoğan nach der Schlappe bei den Kommunalwahlen weitermachen wird: Wird er in seinem Kurs noch härter – oder eher wieder etwas weicher? Der türkische Journalist Kadri Gürsel formulierte kürzlich einen Leitsatz, den sich auch deutsche wie europäische Politiker zu eigen machen könnten: Demnach werde Erdoğan nicht weich, er werde höchstens weich gemacht. Ein hyperpragmatischer Politiker, der stark über Geben und Nehmen funktioniert.
Demokratische Kräfte des Wandels stärken
Man könnte also, als Vertreterin und Vertreter einer wertebasierten und feministischen Außenpolitik, etwa für die Aussicht auf Visaerleichterungen darauf hinwirken, dass die Türkei zurückkehrt zur Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor sexualisierter und häuslicher Gewalt. Man könnte sich auch wieder stärker und hörbarer dafür einsetzen, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umgesetzt werden und prominente Oppositionelle wie Osman Kavala oder Selahattin Demirtaş freikommen. Auf dass all jene Kräfte, die sich eine andere Türkei wünschen, ob liberal oder konservativ, säkular oder fromm, gestärkt werden.
Eine kluge Türkeipolitik sollte dieses Kunststück vollbringen: Eine vernünftige Arbeitsebene mit dem »großen Meister« aufrechtzuerhalten, schließlich gibt es nicht viele Staatenlenker, die sowohl Gesprächskanäle etwa nach Moskau als auch zu europäischen Hauptstädten haben. Und gleichzeitig die allzu obsessive Fokussierung (Flüchtlinge!) auf Erdoğan ablegen und jenen demokratischen Kräften der Opposition und des Wandels wieder mehr Aufmerksamkeit schenken, die, wie der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, dem Meister mit einer interessanten neuen Angstfreiheit begegnen. Von dieser Angstfreiheit könnte sich so mancher etwas abschauen.