Warum es immer mehr Streiks gibt und was dagegen hilft

Düsseldorf. Lokführer, Boden- und Bahnpersonal, Arzthelferinnen: Fast täglich wurde in den letzten Wochen gestreikt, Millionen Bürger leiden darunter. 2024 wird besonders konfliktreich. Welche Grenzen das Streikrecht hat und was Zwangsschlichtungen bringen können.

Jetzt also auch noch die Arzthelferinnen: Für Donnerstag hat der Verband medizinischer Fachberufe die 300.000 Angestellten in den Praxen zum Warnstreik aufgerufen. Patienten müssen sich auf längere Wartezeiten einstellen. Am Mittwoch startete ein 27-stündiger Warnstreik des Bodenpersonals bei der Lufthansa, Rund hunderttausend Passagiere waren betroffen. Am Freitag hatte Verdi den öffentlichen Nahverkehr bundesweit lahm gelegt, Pendler und Schulkinder konnten sehen, wo sie bleiben. Von den Lokführern gar nicht zu reden. Deutschland wird zur bestreikten Republik. Kaum haben die Verhandlungsführer bei Tarifgesprächen „Guten Tag“ gesagt, rufen Gewerkschaften schon mal zum Streik auf – mal Stunden, mal einen Tag oder wie jüngst die GDL fast eine Woche. Sind denn alle verrückt geworden? Oder ist die Streikwelle nur gefühlt? Und wie kann man den Stillstand der Republik überwinden?

Höchststand „Das Jahr 2023 war das konfliktreichste seit 2010. Das wird sich vermutlich auch 2024 fortsetzen“, sagt Hagen Lesch, Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Das Tarifarchiv der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung (WSI) will sich noch nicht abschließend festlegen, doch auch dessen Leiter Thorsten Schulten sagt: „Die ,gefühlte’ Streikhäufigkeit ist sicherlich aufgrund der hohen Betroffenheit besonders groß.“ In jedem Fall habe die Beteiligung gerade an den Flächenstreiks deutlich zugenommen. „Offensichtlich steigt die Bereitschaft und das Selbstbewusstsein der Beschäftigten, für ihre eigen Interessen einzutreten“, sagt Schulten. Aus Sicht der Bürger und Betriebe sieht die Bewertung anders aus. „Ärgerlich ist, dass die Gewerkschaften den Warnstreik inzwischen überstrapazieren: Sie streiken nicht nur für einige Stunden, sondern für ganze Tage“, sagt Lesch.

Grundrecht auf Streiks Klar ist: Das Streikrecht ist ein hohes Gut. Es steht zwar nicht wörtlich im Grundgesetz, leitet sich aber daraus ab: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“, heißt es in Artikel 9. Die Rechtsprechung hat Gewerkschaften immer wieder gestärkt. Die Deutsche Bahn und Lufthansa sind immer wieder mit ihren Versuchen gescheitert, Arbeitskämpfe gerichtlich verbieten zu lassen. Doch das Streikrecht hat auch Grenzen: Schon 1971 hatte das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatz-Urteil entschieden, dass Arbeitskampfmaßnahmen grundsätzlich unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Das Verfassungsgericht hat diese Einschätzung später bestätigt. Die Richter gestehen zwar zu, dass Streiks Dritte beeinträchtigen können. Sie betont aber auch, dass Streiks  das Gemeinwohl „nicht offensichtlich“ verletzen dürfen und dass grundsätzlich Bereiche vom Streik ausgenommen werden dürfen, die für die Allgemeinheit lebensnotwendig sind. Die Ausgestaltung aber müssen Gesetzgeber und Tarifpartner regeln.

Stumpfes Schwert Tarifeinheitsgesetz Zum besonderen Ärgernis für Bürger wurden die vielen Streiks der Spartengewerkschaften für Piloten (Cockpit), Fluglotsen und Lokführer (GDL, EVG).  Im Jahr 2015 führte die große Koalition das Tarifeinheitsgesetz ein, das den Grundsatz „Ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ realisieren soll: Gibt es für einen Betrieb mehrere Tarifverträge, gilt seitdem der Vertrag, den die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern geschlossen hat. GDL-Chef Claus Weselsky hält das für einen Angriff auf Spartengewerkschaften: Der GDL-Tarifvertrag gilt nur noch für 10.000 der 200.000 Bahn-Mitarbeiter – aber die sitzen eben an den Schalthebeln der Loks. Als entsprechend stumpf hat sich das Schwert erwiesen, zumal die konkrete Ausgestaltung immer wieder die Gerichte beschäftigt.

Chancen der Zwangsschlichtung Wenn die IG Metall bald Tarifverhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie führt, werden mindestens Warnstreiks dazugehören. Doch auch wenn sie richtig streikt, tut das allenfalls den Betrieben und den meist gewerblichen Kunden weh. Wenn aber bei Bahnen, der Luftfahrt, in Kliniken oder Kitas gestreikt wird, leiden Millionen Bürger. Daher wird nun über Wege nachgedacht, Gewerkschaften zum Maßhalten zu zwingen. Gitta Connemann (CDU), Chefin der Mittelstands-Union, fordert neue Spielregeln für Betriebe der Daseinsvorsorge: Streiks in diesen Bereichen sollten mindestens vier Tage vorher angekündigt werden, und Gewerkschaften überhaupt nur dann streiken dürfen, wenn es zuvor einen Schlichtungsversuch gab. Gerade zur Zähmung der GDL könnte das eine gute Idee sein. „Nach bloß 14 Stunden Gesprächen gab es schon 240 Stunden Streik“, kritisierte Connemann im Interview mit der „Zeit“.

Ihr Parteifreund Weselsky sieht hingegen auch darin einen Angriff. Auch WSI-Experte Schulten sagt: „Es geht bei diesen Vorschlägen für eine Zwangsschlichtung um einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie, der darauf abzielt, das Streikrecht einzuschränken und die Verhandlungsposition der Gewerkschaften zu schwächen.“ Allerdings hängt das davon ab, welche Unternehmen man zur Daseinsvorsorge zählt – den Verkehrssektor sicher ja, den Handel aber nein. Die Befürworter einer Zwangsschlichtung haben noch ein gutes Argument: „Eine obligatorische Schlichtung würde das Ultima-Ratio-Prinzip sicher stärken: Der Streik darf nur das letzte Mittel sein“, sagt IW-Experte Lesch. Das ist er derzeit oft nicht: „Gewerkschaften nutzen den Warnstreik zunehmend zur Mitgliederwerbung. Das darf aber kein Streikziel sein.“

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