Fischtown Pinguins: Wie der Erfolg ganz Bremerhaven ein neues Selbstbild vermittelt
Bremerhaven ist Vize, damit kennt sich die zweite Stadt im Stadtstaat Bremen aus. Trotz des verpassten Titels ist jetzt etwas anders: Eishockey und ein Teammanager aus der Oberpfalz vermitteln der Region ein neues Selbstbild.
Zahlen können die Welt verändern. Ein Tor mehr, und das Spiel wäre gewonnen. Ein gewonnenes Spiel mehr, dann hätte es womöglich zum Titel gereicht. Diesen einen Titel geholt, und eine Legende wäre geboren. Nach diesem Legendenstatus gierte das ganze Geestland im Nordwesten Deutschlands rund um die Küstengroßstadt Bremerhaven.
Denn andere Zahlen zermürben die Einwohner: 14,7 Prozent Arbeitslosenquote, 33 Prozent Armutsanteil. Bremerhaven hat einen miesen Ruf. Oft heißt es in den Medien »Ruhrpott des Nordens«, vom »Armenhaus« ist die Rede, von »Abgehängten« und »Ahnungslosen«.
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Zuletzt war Bremerhaven dabei, dieses Image abzustreifen. Eine neue Geschichte zu schreiben, eine positive. Auf dem Eis. Denn so unwahrscheinlich es klingt, die Fischtown Pinguins griffen tatsächlich nach dem Titel der Deutschen Eishockey Liga (DEL). Auch wenn es gegen das übermächtige Berlin letztlich nicht reichte: Am Ende skandierte die ganze Halle »Bremerhaven!«.
Der Mann mit dem Schnauzer
Müsste man sich auf einen einzigen Ausgangspunkt für den steilen Aufstieg des Klubs einigen, wäre das ein Mann mit charakteristischem schwarzem Schnauzer: Teammanager Alfred Prey. Wenige Stunden vor einem entscheidenden Playoff-Finale holt Prey Reporter vom Bahnhof ab. Er will zeigen, dass Bremerhaven seinen Ruf nicht verdient hat: »Ich finde, dass die Stadt medial ein bisschen schlecht behandelt wird.«
Der Teammanager spricht ruhig, aber man merkt, dass es in ihm arbeitet. Seine Worte sind gefärbt durch das Bairisch seiner oberpfälzischen Herkunft und den trockenen Nordseeschnack nach mehr als drei Jahrzehnten in Heimat Bremerhaven. »Das Image, mir tut das wirklich weh. Ich wohne jetzt so lange hier und weiß, wie die Leute fühlen. Und die werden immer so abgekanzelt, weil sie hier herkommen.«
Als die Fischtown Pinguins sich im ersten Spiel der Finalserie mit Rekordmeister Eisbären Berlin duellierten, zogen die Fans eine Choreo zu Preys 70. Geburtstag auf: »Unser Erfolg ist dein Verdienst« in großen Lettern neben einem großen Konterfei des Teammanagers, der sich seit 1992 in Bremerhavens Eishockey engagiert. »Das ist mir richtig nahegegangen. Muss ich ganz ehrlich sagen«, gesteht er und blinzelt in eine andere Richtung.
Der Karawankenexpress
Prey hört nach der Saison als Teammanager auf. Das Finale gegen Berlin ist die Krönung seiner sportlichen Karriere.
An der Wesermündung hat er sich den Ruf erarbeitet, spielerische Rohdiamanten zu finden, die in Bremerhaven zu glänzen beginnen. Das bekannteste Ergebnis seines wohldosiertes diplomatischen Herangehens, bei dem er Spieleragenten möglichst draußen hielt, ist der »Karawankenexpress« der Slowenen Miha Verlič, Jan Urbas und Žiga Jeglič. »Wir konnten sie sozusagen überzeugen, dass ihr sportliches Glück eigentlich in Bremerhaven liegt«, erklärt Prey.
Das Trio – von Prey benannt nach einem Gebirgszug in Slowenien – war ein Schlüsselelement zum Auftaktsieg der Fischtown Pinguins. Auch im zweiten Match der Best-of-sieben-Serie, das knapp an Berlin ging, war die slowenische Offensivpower von zentraler Bedeutung. Daraufhin veränderten die Eisbären ihre Taktik hin zu einer dichten, galligen Defensive und intensivem Blockspiel, das den Bremerhavenern nur zwei Tore in den zwei Folgespielen ermöglichte und Berlin zwei Siege brachte.
Bremerhaven musste also Spiel fünf am Freitagabend gewinnen, sonst wäre der Titel weg.
Prey zeigt sich vor dem Spiel entsprechend nervös. Nervöser als bei anderen Spielen? »Ja, klar. Was wir heuer erreicht haben, das ist ja was Einmaliges«, sagt der Teammanager, während er auf der Stadtrundfahrt geradewegs auf Bremerhavens Doppelschleuse zusteuert. »Ich glaube nicht, dass man das so schnell wiederholen kann. Alles hat gepasst. Man steht auf der Türschwelle. Und jetzt will man auch durch die Tür durchgehen, auch wenn es eins zu drei gegen einen steht.«
An der Doppelschleuse verharrt Prey. Es ist einer seiner Lieblingsorte. Die mäandernde Geest fließt hier in die Wesermündung, rundherum tut sich die Aussicht auf Bremerhavens Hafenkante auf, Klimahaus und Skyline rechts der Weser, Deiche und Wiesen links. Und am Horizont die Nordsee. Keine Frage, die Küstenstadt hat ihre schönen Seiten.
Die Abwehrschlacht
Das benötige er jetzt, sagt Prey, um vor dem Spiel herunterzukommen. Und die Nerven wird er brauchen. Denn Spiel fünf gerät abermals zur Abwehrschlacht.
Im ersten Spieldrittel haben die Fischtown Pinguins gute Chancen. Das Spiel bewegt sich größtenteils in der Berliner Zone, die Eisbären fahren Wettkampfhärte hoch. Aber die kleinen Pinguine verausgaben sich am großen Eisbären, kein Tor fällt.
Wenige Stunden vor dem Spiel kurvt Prey am großen Überseehafen vorbei. »7000 Autos fasst so ein Schiff«, erzählt er und erwähnt auch, diese oder jene Firma gehöre zu den 246 Unternehmen unter den Sponsoren der Fischtown Pinguins. Sisyphusarbeit sei das, die sich aber lohne. »Bei den meisten meiner Sponsoren bräuchte ich gar keinen Vertrag. Ein Handschlag würde reichen.« Wenn ein Norddeutscher sein Wort gebe, dann gelte es. Es dauere zwar lange, bis er sich öffnet und zum Freund wird, aber dann bleibe er es auch. Die breite Basis, das sei der Schlüssel zum jetzigen Eishockeyerfolg, sagt Prey.
Die große Anzahl an Geldgebern steht dabei im Gegensatz zum wirtschaftsschwachen Image Bremerhavens. »Man muss einfach die Vergangenheit sehen«, sagt Prey. Das war in Bremerhaven die Werftindustrie, die sich seit den Neunzigern verlagert hat. Die hohen Arbeitslosenzahlen sind auch ein Erbe aus jener Zeit. Tourismus, Überseehafen und Wissenschaftsstandorte haben nur einen Teil davon aufgefangen.
Das Durchschnittsgehalt ist niedriger als in anderen deutschen Großstädten. »Es gibt viele Leute, die sparen sich ihre Dauerkarte vom Mund ab«, sagt Prey. Daher blieben Bremerhavens Eintrittspreise im Vergleich zu anderen Ligakonkurrenten moderat. »Wir haben auch in den Playoffs nicht die Preise erhöht, weil das einfach unsozial ist.« Trotzdem ist auch in Bremerhaven nicht alles fanromantisch. Der halbe Liter Bier kostet mit 5,50 Euro so viel wie bei Werder Bremen.
»Im Eishockey werde ich nur diesem Verein verbunden bleiben. Da gibt es gar kein VertunВ«, sagt Prey. Je nГ¤her er jetzt dem Spielfeld kommt, desto schneller muss er hin.
Die Eisbären Berlin werden im zweiten Drittel am Freitagabend stärker, sehen sich aber nach einem kurzen Ausbruch Bremerhavens zu einem Foul genötigt: zwei Minuten Strafzeit. Bremerhaven ist jetzt in der Überzahl. Auf dem Videowürfel jagt ein kleiner, watschelnder Pinguin einen Eisbären. In der Realität verzagen die Fischtown Pinguins jedoch. Der Karawankenexpress, er kommt einfach nicht in Fahrt. Zugleich kommen die Berliner zu immer gefährlicheren Abschlüssen, ehe auch das zweite Drittel torlos endet.
Irgendwo zwischen Berlin, Alster und Acker
Kurz vor Ende ist die Partie so unentschlossen wie der Charakter der Wesergroßstadt. Im Norden, geprägt von weitläufigen Gründerzeitgebäuden, wechseln sich Dönerläden und Spätis ab. Hier stopfen sich Kioskgänger auf offener Kreuzung zwei große Dosen Haake Beck zwischen Boxershort und Jeans, um die dritte entspannt öffnen zu können. Zwei Blocks weiter stoßen Menschen in Kostüm und Krawatte auf Hoteldächern vor Binnenalster-artiger Kulisse am neuen Hafen mit Sekt an.
Fisch und Chips muss man in Bremerhaven länger suchen als erwartet, doch bei Martin’s findet man sie mit erstaunlich guter Remoulade. Die Kellnerin erzählt, sie gehe sie nachts nicht mehr allein zum Bahnhof. Zu gefährlich. Aber ohne das Weserwasser könne sie dann doch nicht.
Noch dazu sehnt sich die Stadt im Stadtstaat Bremen, umgeben von niedersächsischen Äckern, Deichen und Dörfern, nach der Anerkennung der Metropole weseraufwärts. Die allerdings gibt es mit dem Erfolg auf dem Eis. »Mit dem Eishockey erkennen die Bremer so langsam, dass Bremerhaven zu ihnen gehört«, bemerkt ein Fan kurz vor dem letzten Drittel.
Das beginnt katastrophal. Endlich fällt ein Tor, aber für Berlin. Wie häufig in den Partien zuvor fällt es flach von rechts. Während die Berliner ihre Schwachstellen in der Playoff-Serie mit aggressiver Verteidigung kaschieren konnten, gelingt das den Pinguins in den entscheidenden Momenten nicht. Als dann Tor zwei fällt, wirkt die Partie entschieden. Die Berliner Mauer hält. Die Eisbären werden Meister.
Alfred Prey taucht auf dem Videowürfel auf, ihm kommen die Tränen. Im Trubel der Siegerehrung nimmt der erfahrene Verteidiger Nicholas Jensen den sichtlich angefassten Fanliebling am letzten Tag als Teammanager in den Arm.
Die Herzen gehören jetzt den Fischtown Pinguins. Minutenlang skandiert die Eishalle: »Vizemeister!« Und etwas Außergewöhnliches geschieht. Der harte, stimmgewaltige Block der Berliner Ultras setzt im Meistermoment nicht bloß für sich selbst an, sondern auch für den Rivalen an: »Bremerhaven!«
Mehr Respekt kann man in der Fanszene kaum zollen. Die Bremerhavener stimmen geschlossen mit ein. Vizemeister, das steht ihnen ganz gut, finden viele. Das Konfetti für den Berliner Meister, es fliegt irgendwie auch für die eigenwillige, dieser Tage sehr stolze Stadt an der Wesermündung.