Finnlands Präsident: „Der Weg der Ukraine zur NATO-Mitgliedschaft ist unwiderruflich“
In der finnischen Botschaft in Berlin: Präsident Stubb
Herr Präsident, Finnland teilt mit Russland eine mehr als 1300 Kilometer lange Grenze. Wie groß sind Ihre Sorgen?
Ich mache mir keine Sorgen. Wir haben ein dreifaches Schloss, das uns schützt. Da ist zum einen unsere eigene Stärke, die nationale Verteidigung, zu der es gehört, dass 900.000 Männer und Frauen militärisch ausgebildet sind, unter anderen mein Sohn, der gerade seinen Wehrdienst leistet. Zu der Verteidigung gehören auch unsere Kampfflugzeuge, zudem hoch entwickelte Langstreckenwaffen und eine starke Artillerie. Zudem haben wir eine resiliente Gesellschaft, die seit vielen Jahren mit dem Konzept der umfassenden Sicherheit vertraut ist. Zweitens schützen uns die NATO-Mitgliedschaft sowie drittens viele bilaterale Sicherheits- und Verteidigungsabkommen.
Alexander Stubb in der finnischen Botschaft in Berlin
Sie haben kurz vor Ihrem Deutschlandbesuch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert. Er wird Ihnen geschildert haben, wie dramatisch die Lage an der Front ist. Haben Sie den Eindruck, dass das alle in Europa begriffen haben?
Ich weiß, wie ernst die Lage an der Front ist, und Finnland hat kürzlich wieder ein neues Hilfspaket für die Ukraine verkündet, das 188 Millionen Euro an militärischem Material umfasst, vor allem Munition und Luftverteidigung. Damit haben wir insgesamt im Umfang von drei Milliarden Euro geholfen. Das ist nicht so viel wie die 28 Milliarden Euro, die Deutschland bereitstellt, aber es ist die sechstgrößte Summe pro Einwohner. Und wir müssen zudem noch eine lange NATO-Grenze mit Russland verteidigen können.
Aber tun die anderen Partner genug?
Europa hilft so gut, wie es kann. Immer ein bisschen spät, zudem knirscht es mal hier und da, aber wir liefern. Deutschland leistet auch viel mehr, als gemeinhin wahrgenommen wird. Die politische Debatte in Deutschland, dass man womöglich nicht genug leiste, scheint mir da etwas durcheinandergeraten zu sein. Aber natürlich müssen wir alle zusammen mehr liefern. Ich hoffe, dass wir im kommenden Jahr eine Situation erreichen, auf deren Grundlage ein Weg zu einer Vereinbarung geebnet werden könnte. Aber da sind wir noch nicht. Gerade führt der einzige Weg zum Frieden über das Schlachtfeld.
Die Ukraine erwartet auch mehr von Deutschland – vor allem Taurus-Marschflugkörper. Sollte Berlin diese liefern?
Dazu kann ich nichts sagen, wir haben keine Taurus. Aber man sollte Deutschland auch mal eine Pause gönnen. Das Land tut, was es kann. Berlin macht wirklich gute Arbeit.
Kanzler Scholz ermahnt öffentlich immer wieder andere Länder Europas zu mehr Hilfe.
Das hilft. Deutschland tut viel und hat die moralische Autorität, von anderen dasselbe zu verlangen. Dazu gehören neben der tschechischen Initiative für mehr Munition die deutschen Bemühungen um eine bessere Luftverteidigung für die Ukraine. Deutschland hat hier eine Führungsrolle.
In gewisser Weise greift Russland Europa schon an, gerade erst hat die Bundesregierung Cyberangriffe auf deutsche Institutionen eindeutig dem russischen Staat zugeordnet. Was kann gegen derlei Angriffe getan werden?
Ein Anfang ist es, die Schuldigen klar zu benennen, wie Deutschland es jetzt getan hat. Das tun wir bisher selten, obwohl unsere Geheimdienste schon viel darüber wissen, was passiert. Weiterhin müssen wir uns einfach darüber im Klaren sein, dass wir nicht nur zu Land, im Wasser und in der Luft in der Lage sein müssen, uns verteidigen zu können, sondern auch im Cyberspace. Unsere Geheimdienste arbeiten hier zusammen, wir wissen, was passiert, und wir können viel dagegen unternehmen.
Im Ostseeraum gibt es derzeit beinahe täglich Störungen des Navigationssystems GPS, was eine Gefahr für Luftverkehr und Schifffahrt ist. Vermutet wird, dass das sogenannte GPS-Jamming von Russland ausgeht. Stimmt das, und was kann man dagegen tun?
Russland ist für die GPS-Störungen verantwortlich. Die Frage ist, ob sie gezielt verursacht wurden oder aus Inkompetenz. Das Wissen wir bisher nicht. Aber die Störungen sind sehr gefährlich, unverantwortlich und zynisch. Doch mit so etwas müssen wir im Falle Russlands rechnen. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen. Die Dinge, die uns eigentlich verbinden sollten, so wie das GPS-System, aber auch Energie oder Information, werden als Waffe eingesetzt. Wir leben in einem Zeitalter des Nicht-Friedens und müssen sehr wachsam sein.
Russland übt aus Sicht Finnlands einen hybriden Angriff mittels Migranten aus. Um das zu stoppen, bereitet Finnlands Regierung ein Gesetz vor, das Pushbacks vorsieht und damit internationales Recht bricht.
Es handelt sich um ein Notstandsgesetz. Ob es internationales Recht bricht, bleibt abzuwarten. Es handelt sich hier nicht um eine klassische Asylsituation. Russland nutzt Menschen als Waffen, schleust sie von einem Ort außerhalb von Sankt Petersburg zur Grenze oder fliegt sie etwa aus dem Irak, Syrien, Äthiopien und dem Jemen ein. Wir haben zunächst einige Grenzen geschlossen, dann weitere. Nach einer Öffnung ging es wieder los. Nun erarbeitet die Regierung ein Notstandsgesetz, das stark beschränkt sein soll. Wir werden sehen, wann und wie es verabschiedet wird. Aber ich werde es unterzeichnen.
Finnland wurde mehrfach von Russland überfallen und verlor Gebiete. Doch danach herrschte Frieden. Wie kann dieser zwischen Russland und der Ukraine erreicht werden? Durch ein Einfrieren des Konflikts?
Einfrieren ist der falsche Begriff. Es gibt viele verschiedene Szenarien. Ich war als finnischer Außenminister 2008 Friedensvermittler im Georgienkrieg. Man muss den Weg zum Frieden irgendwo anfangen. Nach den Gesprächen mit Selenskyj habe ich das Gefühl, dass es eine echte Bemühung für Frieden gibt. Der ukrainische Präsident hat zu einem Friedensforum am 15. und 16. Juni in der Schweiz geladen. Ich hoffe, dass so viele Staats- und Regierungschefs wie möglich teilnehmen werden und dass es zu einem Treffen mit Russland kommen wird. Das kann auch unterhalb des Radars geschehen.
Was sind aus Ihrer Sicht Bedingungen für einen Frieden?
Damit Frieden möglich ist, müssen einige Bedingungen erfüllt sein. Eine davon ist das Territorium. Ich verstehe, dass das für Selenskyj die zentrale Frage ist. Weiterhin braucht es harte Sicherheitsgarantien – etwa im Rahmen einer EU- oder NATO-Mitgliedschaft. Zudem braucht es Gerechtigkeit, also die Anklage von Kriegsverbrechern. Und zuletzt braucht es den Wiederaufbau.
Sind Sie für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?
Unbedingt. Der Weg der Ukraine zur NATO-Mitgliedschaft ist unwiderruflich. Putin muss begreifen, dass sein Angriff auf die Ukraine ein totaler Fehlschlag ist. Er hat die Ukraine in Richtung EU-Mitgliedschaft und NATO getrieben. Und er hat Finnland und Schweden zu NATO-Mitgliedern gemacht.
Für Verhandlungen braucht es auch Vertrauen. Kann es das mit Putin jemals wieder geben?
Finnland hat im kommenden Jahr den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) inne. Als diese 1975 in Helsinki gegründet wurde, brachte sie die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion an einen Tisch. Wird das auch nun passieren? Die Chancen sind gering, aber man kann immer hoffen.