Finnlands Angst vor dem Dritten Weltkrieg: Nato-Basis in Mikkeli spaltet das Land
Mikkeli ist eine finnische Stadt nordöstlich der Hauptstadt Helsinki mit etwa 50.000 Einwohnern. Hier, nur 140 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, könnte eine Nato-Basis errichtet werden.
„Sie müssen sich irren, Sie sind hier immerhin in Mikkeli.“ Diesen oder ähnliche Sätze bekommt man dieser Tage zu hören, wenn man Bewohner der finnischen Stadt im Süden der historischen Landschaft Savo auf eine hier geplante Nato-Basis anspricht. Viele können es gar nicht glauben, zeigen sich überrascht von den Plänen, manche beharren darauf, dass es sich um einen Irrtum handeln muss.
Nach Gründung der Nato im Jahr 1949 blieb Finnland wegen des historisch und geopolitisch schwierigen Verhältnisses zum großen Nachbarn bewusst neutral und war stolz darauf. Diskussionen kamen auch nur spärlich auf, als der Kalte Krieg der Vergangenheit anzugehören vermochte und Finnland 1995 der Europäischen Union beitrat – die Bevölkerung war zu sehr dagegen, sodass jegliche ernsthafte politische Debatte darüber rasch diverse negative Folgen nach sich gezogen hätte. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 markierte jedoch nicht nur in Finnland, sondern insbesondere bei den Finnen einen Wendepunkt. Nur wenige Wochen später beantragte Finnland, nach Druck aus der Bevölkerung, den Nato-Beitritt. Am 4. April 2023 wurde das östlichste skandinavische Land mit der so langen Grenze zu Russland das 31. Nato-Mitglied.
Mitglied der nordatlantischen Allianz zu sein ist jedoch das eine, eine Nato-Basis im eigenen Land nahe der russischen Grenze aufziehen zu lassen das andere. Mikkeli ist in dieser Frage tief gespalten. „Ich würde sagen, dass die Stimmung bei uns hier in etwa ausgeglichen ist – die eine Hälfte ist für die Nato-Basis, die andere dagegen“, erklärt Oli, der auch meint, dass sich Zustimmung zur bzw. Ablehnung der Nato in Mikkeli die Waage halten würden.
Doch viele hier wissen gar nicht, dass es die entsprechenden Pläne gibt. Das passt irgendwie zur Stimmung vor Ort, denn die Bewohner Mikkelis wirken so unscheinbar wie die Stadt selbst und auch dessen Lage. „Im Herzen Saimaas“, so die Zuschreibung von Mikkeli in der eigenen Stadtwerbung. Saimaa, das ist der größte See Finnlands. Dementsprechend wird die Stadt von allen Seiten über eine beeindruckende Seenlandschaft erreicht, links und rechts sind die Gewässer noch gefroren und erzeugen damit eine ganz eigene Stimmung.
Mikkeli wird von allen Seiten über eine beeindruckende Seenlandschaft erreicht.
Trotzdem verfügt Mikkeli über eine gute Verkehrsanbindung, sogar ein Flughafen ist hier beheimatet. Das sollen auch mitunter Gründe dafür sein, warum die Nato-Basis nun hier errichtet werden soll. Wie man hört, dürfte es sich dabei um ein rund um die Uhr einsatzbereites sogenanntes „High Readiness Headquarter“ handeln. Von hier aus sollen künftig sämtliche Nato-Bodenoperationen in den nordischen Ländern geleitet werden, die Basis würde direkt dem Nato-Hauptquartier in Norfolk an der Ostküste der USA unterstellt werden. Auf einen Schlag würde Mikkeli in den Fokus der Weltöffentlichkeit gelangen.
So sieht das auch Bürgermeister Janne Kinnunen: „Meiner Meinung nach würde die Ansiedlung des Nato-Stützpunktes in Mikkeli den internationalen Status der Stadt stärken und den Bekanntheitsgrad von Mikkeli sowie die Vitalität der Region erhöhen“, erklärt der „klare Befürworter“ des Standorts gegenüber der Berliner Zeitung. Für ihn komme auch noch hinzu, dass sich das Hauptquartier der finnischen Armee bereits im Stadtzentrum von Mikkeli befindet und die Stadt eine lange Tradition als Garnisonsstadt habe: „Aufgrund unserer reichen militärischen Geschichte ist auch die Präsenz der Verteidigungskräfte hier eine Selbstverständlichkeit.“
So verwundert es kaum, dass die wohl weithin bekannteste Örtlichkeit im Herzen der Stadt eine Statue des finnischen Marschalls Gustaf Mannerheims ist. „Er führte das finnische Volk als Oberbefehlshaber während all unserer Unabhängigkeitskriege, u.a. im Winterkrieg 1939/40, im Fortsetzungskrieg 1941-44 und im Lapplandkrieg 1944/45“, erklärt Pia Puntanen vom „Muisti“ (= Gedächtnis) Zentrum für Krieg und Frieden in Mikkeli.
Eine Nato-Basis ist jedoch für viele etwas ganz anderes: „Es ist nicht die Nato, die hierherkommt, es sind die Amerikaner. Wir hatten vorher genügend Truppen, um uns selbst zu verteidigen, doch es gab gar keinen Grund dafür: Wir haben uns 70 Jahre lang mit den Russen verstanden“, erklärt Tula, die sich direkt in Rage redet: „Es wurden Verträge vom Westen gebrochen. Die Nato hat immer weiter in Richtung Osten expandiert, das ist eine Katastrophe.“
Die mittelalte Dame ist mit ihrer Meinung nicht allein, der Nato stehen hier mehrere nicht positiv gegenüber. So auch Jari, dem insbesondere das nachhaltig miserable Verhältnis zum großen Nachbarn aufstößt: „Wir brauchen diese Nato-Basis hier nicht, das wäre das Ende aller Beziehungen zu Russland. Wir waren jahrzehntelang befreundet, haben gute Geschäfte mit den Russen gemacht, alles hat funktioniert. Nun ist das vorbei, die Wirtschaft ist am Boden.“ Doch bei ihm schwingt auch eine Angst mit, dass sich die Nato-Basis zu einer direkten Gefahr für die Stadt und ihre Bewohner entwickeln könnte: „Alle haben gedacht, dass Putin verwirrt und irrational ist, dass Russland nur alte Technik und schlecht ausgebildete Soldaten hat. Doch das stimmt nicht, ganz im Gegenteil“, warnt er.
05.03.2024, Finnland, Hetta: Schwedische Soldaten auf einem Panzer nehmen an einer gemeinsamen Übung mit finnischen Jagdeinheiten teil.
Am Weg neben dem Stadion von Mikkeli spaziert Marina entlang. Die Ukrainerin floh vor einem Jahr aus der stark unter russischem Beschuss stehenden Oblast Sumy. Man möchte meinen, dass sie, deren Heimat so stark betroffen ist, kein Verständnis für die Angst mancher Bewohner von Mikkeli hat – doch weit gefehlt, sie erklärt: „Ich sorge mich um die Ukraine, aber in Wahrheit um die gesamte Welt. Es ist sehr gefährlich, dass die Nato hierherkommt. Ich fürchte mich wirklich vor dem Dritten Weltkrieg.“
Es sind überraschende Worte, die sie noch weiter ausführt: „Man hört es ja, es wird immer gefährlicher. Es bräuchte Deeskalation, aber beide Seiten eskalieren immer weiter. Ich weiß nicht, ob die Finnen die Nato brauchen, das hat ja hier vorher auch alles gut und friedlich funktioniert.“ Vergleiche mit „ihrer“ Ukraine dürfe es hier keine geben: „Das ist ein ganz anderer Fall – und das sage sogar ich als Ukrainerin.“ Ein Stützpunkt der nordatlantischen Allianz könne, so meint sie, nach ihrer alten nun auch ihre neue Heimatstadt in den Fokus Russlands rücken.
Solchen Befürchtungen widerspricht der finnische Abgeordnete Oskari Valtola entschieden. Er gilt als einer der leidenschaftlichsten Befürworter der möglichen Nato-Basis in Mikkeli. Auf Anfrage der Berliner Zeitung erklärt er: „Da wir bereits das Hauptquartier der finnischen Armee hier in der Stadt haben, wird es keine erhöhte Gefahr für Mikkeli geben.“
Es sei laut ihm klar, dass sich die Nato-Kommandostruktur durch die Beitritte von Finnland und auch Schweden ändern werden. Dass eine Mehrheit gegen die Basis in Mikkeli ist, glaubt der selbst dort geborene Parlamentarier, der darüber hinaus Vorsitzender des dortigen Stadtrats ist, nicht.
Der finnische Abgeordnete Oskari Valtola gilt als einer der leidenschaftlichsten Befürworter der möglichen Nato-Basis in Mikkeli.
Auf derselben Seite steht auch Samuli Puhakka, zuständiger Berater im finnischen Verteidigungsministerium. Er widerspricht zumindest mit Blick auf die Gesamtstimmung in Finnland: „Die Nato-Mitgliedschaft findet große Unterstützung. Auf Basis von Umfragen würde ich wagen zu glauben, dass die Finnen allgemein jede Maßnahme unterstützen, welche die Fähigkeiten der Nato stärkt, ihre Mitgliedsstaaten zu schützen und notfalls zu verteidigen.“
Ohne auf den konkreten Standort einzugehen, betont Puhakka die Relevanz einer Nato-Basis in Finnland: „Dies würde die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses in Nordeuropa unterstützen.“ Doch auch das nordatlantische Bündnis würde seiner Ansicht nach enorm profitieren. So verfüge Finnland über ein ausgeprägtes Know-How im Bereich der Landkriegsführung und über ein gutes Verständnis hinsichtlich der operativen Erfordernisse in dieser Region.
Tatsächlich findet man vor Ort viele Bewohner, die der Nato und einem entsprechenden Stützpunkt wohlwollend gegenüberstehen. Simo, der langsam schlendernd durch die Innenstadt spaziert, erklärt: „Wir haben gehört, dass die Basis kommen wird und das ist schon gut so. Für mich ist das vollkommen in Ordnung. Aber wundern Sie sich nicht: Eigentlich will der Großteil nicht darüber sprechen.“
Das Thema polarisiert. Doch wer um die mögliche Nato-Basis weiß, so scheint es, der hält mit seiner Meinung oftmals lieber hinterm Berg. Das bestätigt auch Oli, der jedoch zumindest selbst erklärt: „Ich war immer gegen die Nato, nun erfordert die missliche Lage aber ein Zusammenstehen. Wir brauchen die Nato und die Nato braucht uns. Daher wäre die Stationierung ihrer Basis bei uns nur logisch.“ Dass dies die Verbindungen zu Russland nachhaltig beschädigen könnte, fürchtet er jedoch nicht: „Für uns gibt es keine Beziehung mehr mit Russland. Wir wollten das nicht, es ist nicht unsere Schuld.“ Früher habe alles einwandfrei funktioniert, das heutige Russland sei aber ein anderes.
Man merkt: Mikkeli ist gespalten. Es gibt die begeisterten Befürworter und die entschiedenen Gegner einer Nato-Basis. Es gibt auch diejenigen, die lieber stumm bleiben und noch immer viele, die den Plänen gar keinen Glauben schenken wollen. Fix ist ohnehin noch nichts, laut Puhakka habe man bisher lediglich vorgeschlagen, das Kommando der Nato-Landstreitkräfte in Finnland anzusiedeln. Etwas fortgeschrittener beschreibt der Bürgermeister den aktuellen Stand: „Es gibt Verhandlungen zwischen der Bündnisführung auf der einen und Finnland auf der anderen Seite. Der Nato-Gipfel im Juli in Washington dürfte richtungsweisend sein.“
Trotzdem macht er sich bereits Gedanken und glaubt an eine räumliche Verbindung des Nato-Stützpunkts mit dem Armeekommando in der Stadt. Wie es genau aussehen soll, wird sich zeigen. Laut Kinnunen dürften dann nämlich mehrere Dutzend Personen für die Nato hierherkommen.