Olaf Scholz bei Bürgerdialog: Diplomaten statt Granaten? Plötzlich entwickelt ein Satz des Kanzlers ein Eigenleben

olaf scholz bei bürgerdialog: diplomaten statt granaten? plötzlich entwickelt ein satz des kanzlers ein eigenleben

Olaf Scholz

Auf seiner Sachsen-Tour versucht der Kanzler, die Stimmung im Osten zu retten. Das geht halbwegs gut – außer in den sozialen Netzwerken: Dort wird ein Einwurf von Olaf Scholz aus dem Kontext gerissen.

Noch ist die Lage ruhig. Olaf Scholz ist an diesem Donnerstagmittag in Glashütte eingetroffen. Der kleine sächsische Ort hat rund 6700 Einwohner und dank seiner Uhrenfabriken eine der niedrigsten Arbeitslosenquote in ganz Sachsen.

Dennoch Kanzler ist gewissermaßen in Feindesland unterwegs. Hier im Osterzgebirge hat fast jeder Dritte bei der Bundestagswahl mit der Zweitstimme die AfD gewählt. Für die Partei von Olaf Scholz stimmten nur 15,5 Prozent. Noch düsterer sieht Prognose für die Landtagswahl im September aus: In den Umfragen liegt die SPD nur bei sieben Prozent, gefährlich nah an der Fünf-Prozent-Hürde.

Einen ganzen Tag verbringt Scholz deshalb in Sachsen, bei einem Flugzeughersteller in Dresden, bei einem Demokratieprojekt in einer Dresdner Straßenbahn, bei einem Bürgergespräch – und in Glashütte.

Beschaulich wirkt der Ort auf den ersten Blick, wie hingetupft in idyllischer Landschaft. Doch wie politisch explosiv die Stimmung hier ist, bekam Ricarda Lang bei ihrem Besuch Anfang Februar zu spüren. Mit einem Großaufgebot musste die Polizei die Gesprächsrunde mit der Grünen-Chefin in der Stadtkirche zum Thema Migration schützen. Vor der Tür veranstalteten rund 150 Demonstranten ein lautes Hupkonzert.

Lob für ein Scheitern

Dass Olaf Scholz dennoch beschlossen hat, bei seiner Sachsen-Tour auch in Glashütte Station zu machen, hat mit Nomos zu tun. Die Inhabergeführte Uhrenmanufaktur ist für Regierungspolitiker ein Vorzeigeprojekt: Wegen des wachsenden Gewinns – und weil die Firma sich schon viel früher als andere in der Wirtschaft gegen Rechtsextremismus und die AfD positioniert.

In der Werkmontage des Betriebs schaut sich Scholz an, wie eine Uhr in Gang gebracht wird. Dem Vorschlag der Mitarbeiterin, selbst mit Pinzette und Lupe die so genannte Reglage einzusetzen, stimmt er zögerlich zu. Und tatsächlich fehlt dem Kanzler das notwendige Fingerspitzengefühl. Es gelingt ihm nicht, die Uhr zum Ticken zu bringen. Die Mitarbeiterin findet trotzdem: “Er macht sich gut.”

So viel Lob für Scheitern, das gibt es für den Kanzler sonst eher selten.

Das Gegenprogramm wartet nur wenige Stunde später vor dem “Kulturkraftwerk”, einem früheren Heizkraftwerk in Dresden, auf den Kanzler. Während sich drinnen rund 160 Bürger und Bürgerinnen für ein “Kanzlergespräch” versammelt habe, stehen draußen knapp 80 Demonstranten. Einige schwenken die weiß-grünen Flaggen der rechtsextremen Partei “Freie Sachsen”, die zum Protest aufgerufen hat. Andere trommeln. Einer hält ein Schild hoch “Habeck, Scholz und Co. sind für unser Land ein Griff ins…”. Doch so richtig Volkszorn-Stimmung will nicht aufkommen, da hilft auch ein Einpeitscher nichts, der in tiefstem Sächsisch der Menge erklärt, die Regierung wolle das Volk “so klein wie möglich machen”. Und dann nimmt der Kanzler auch noch einen anderen Eingang. Enttäuscht ziehen die Demonstranten nach einer knappen Stunde Getrommel und Gepfeife wieder ab.

Keine Wohlfühlveranstaltung für Olaf Scholz

Als Scholz auf die Minute pünktlich eintrifft, wird er mit freundlichem Beifall begrüßt. Auf die Aufwärmfrage der Moderatorin, was er typisch Sächsisch findet, folgt eine typische Scholz-Phrase: “Ich finde das schwer sagbar, weil es so viel Vielfalt gibt.”

Eine reine Wohlfühlveranstaltung wird es für den Kanzler nicht. Das zeigt schon die erste Frage aus dem Publikum. Ein älterer Mann kritisiert die militärische Unterstützung für die Ukraine: “Die Bundesregierung hat sich für das Schwert entschieden und nicht für den Geist, für Waffenlieferungen und nicht die Diplomatie. Warum?”

Scholz zieht einige Schleifen in der Antwort. Er betont noch einmal, dass es keine deutschen Soldaten auf ukrainischem Boden geben werde, spottet über Talkshows, in denen sich “ein Generalfeldmarschall nach dem anderen” mit Ratschlägen versammele. Bei einer weiteren Frage kommt Scholz auch noch einmal auf seine Taurus-Absage zu sprechen. Mit diesen könne man “ein konkretes Ziel in Moskau erreichen” und deshalb sei dies keine “Frage, die man einfach mal so nebenbei mit selbstermutigenden Sprüchen” entscheide. Man müsse verhindern, dass es zu einer “Eskalation des Krieges” komme.

In diesen Momenten klingt ein Motiv an, was auch für den kommenden Bundestagswahlkampf zur Leitmelodie werden könnte: Scholz als der besonnene Kanzler, der nicht zulässt, dass Deutschland in einen Krieg getrieben wird. Scholz weiß, dass er damit einen Nerv in der Bevölkerung trifft. Laut einer aktuellen Umfrage von RTL/ntv sind 56 Prozent der Deutschen gegen die Lieferung von Taurus-Raketen, in Ostdeutschland sind es sogar noch deutlich mehr.

Auch zum Vorwurf, nicht genug Diplomatie zu versuchen, äußert sich Scholz. Dieser ärgert ihn erkennbar. Er habe mehrfach mit Putin gesprochen. Nur sei dieser nicht zu Verhandlungen bereit. Für Friedensaktivisten hat Scholz einen dringenden Rat: Wer Zweifel an Putins Hegemonialanspruch habe, dem empfehle er, sich die Texte und Reden des russischen Präsidenten anzuschauen: “Der findet eigentlich, dass Belarus und die Ukraine ihm gehören. Das steht da nachzulesen.”

Der Granaten-Moment sorgt für Unruhe im Netz

Es geht noch um viel mehr an diesem Abend: um Altersarmut, Wohnungsnot, um die Doppelverbeitragung der Betriebsrente, um Digitalisierung. Scholz antwortet stets freundlich und zugewandt, gibt mal den Erklärbären, lobt langatmig die eigenen Erfolge, weicht ins Phrasenhafte aus. So antwortet er einer verzweifelten Erzieherin, die sich über den katastrophalen Personalschlüssel in Kitas beklagt, man müsse die Lage “realistisch” analysieren und sich “gemeinsam unterhaken”.

In den sozialen Netzwerken verselbstständigt sich ein Satz des Kanzlers und sorgt einen kurzen Moment für Aufregung. Einem Mann, der ihm ein Blatt mit dem Slogan “Diplomaten statt Granaten” überreicht hatte, antwortet er leicht flapsig: “Ja, Diplomaten statt Granaten ist der Satz, den wir gemeinsam skandieren in Richtung Kreml nach Moskau.” In den sozialen Netzwerken, wo der Ausschnitt aus dem Kontext wiedergegeben wird, wird der Satz des Kanzlers als Kapitulation verstanden. Dabei sendet der Kanzler eine Botschaft an Putin: Wenn er die Aggression einstellt, würde Deutschland auch keine Waffen an die Ukraine mehr liefern.

Im Dresdner Kulturkraftwerk bekommen das Publikum von der Aufregung in den sozialen Netzwerken nichts mit. Als die Begegnung mit dem Kanzler nach anderthalb Stunden vorbei ist, wirken die meisten zufrieden. Der Tag in Dresden zeigt: Die, die Olaf Scholz noch zuhören, sind für den Kanzler und seine Regierung nicht das Problem. Sondern die, die nicht mehr zuhören wollen.

Erfahren Sie mehr:

“Argumente nicht stichhaltig”: Trotz Nein des Kanzlers: Debatte um Taurus-Lieferungen an die Ukraine geht weiter

Umfrage: Trotz Krach in der Koalition: Mehrheit der Deutschen steht bei Taurus-Nein hinter Scholz

“Einladung an Putin”: Kein Taurus, aber westliche Truppen in der Ukraine? Scharfe Kritik an Scholz und Macron

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