FDP-Papier: Vergleich mit Konzept von Otto Graf Lambsdorff von 1982
Die FDP schreibt Forderungen auf, SPD und Grüne lehnen sie ab – und die Opposition freut sich über die »Scheidungsurkunde« für die Koalition. So eine gab es schon einmal. Sie war etwas gehaltvoller.
FDP-Papier: Vergleich mit Konzept von Otto Graf Lambsdorff von 1982
Die Frage, ob die Ampelkoalition kurz vor dem Bruch steht, ist so alt wie diese Koalition selbst: zu ungleich die Partner, ihre Ideen, ihre politische Kultur. Es war von Anfang an klar, dass diese Regierung nicht reibungslos zusammenarbeiten würde, auch Fortschrittsrhetorik und Wohlfühl-Selfies konnten die ideologischen Unterschiede nicht kaschieren. Seit Monaten wird nicht einmal mehr der Versuch dazu unternommen. Die Ampel flackert, als habe sie einen Wackelkontakt. Vor allem die FDP, getrieben von schlechten Umfragewerten, schert immer wieder mit ganz eigenen Ideen aus. Führende Liberale machen keinen Hehl daraus, dass sie viel lieber und besser mit der Union regieren würden. Fast hat man sich an den fortwährenden Zank schon gewöhnt: Die streiten sich doch ständig. Aber eine Trennung? Unwahrscheinlich.
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Oder doch nicht ganz so unwahrscheinlich? Seit dem Wochenende kursieren »12 Punkte zur Beschleunigung der Wirtschaftswende« von der FDP im politischen Berlin, und was darin gefordert wird, darf in weiten Teilen als unvereinbar gelten mit der Programmatik der roten und grünen Partner. Ein Geschenk für die konservative Opposition: Der CSU-Chef Markus Söder jubelt in der »Bild am Sonntag«, das FDP-Papier sei »nichts anderes als eine Scheidungsurkunde für die Ampel«. Und der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann analysiert: »Das Papier liest sich wie Lambsdorff 2.0.«
Ein Konzeptpapier als Todesstoß
Lambsdorff? Da war doch mal was: Am 9. September 1982 läutete der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (ein Onkel des FDP-Politikers Alexander Graf Lambsdorff, heute deutscher Botschafter in Moskau) das Ende der sozialliberalen Koalition mit einem »Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« ein, das den Positionen der Kanzlerpartei SPD so deutlich widersprach, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt wenige Tage später im Bundestag erklärte, er habe das politische Vertrauen in seinen Koalitionspartner FDP verloren. Die vier FDP-Minister traten zurück, es folgten Misstrauensvotum, Kanzlersturz und 16 Jahre Helmut Kohl (CDU), ins Amt gewählt mit freundlicher Unterstützung der FDP. Das »Lambsdorff-Papier« wurde als »Scheidungsbrief« der rot-gelben Koalition bekannt, die Bayerische Staatsbibliothek zählt es zu den »Schlüsseldokumenten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert«.
Sollte Markus Söder einmal die paar Schritte von seiner Staatskanzlei zur Staatsbibliothek spazieren, könnte er persönlich feststellen, dass die freudige Erinnerung an das vermeintliche historische Vorbild etwas hoch gegriffen und wohl vor allem Ergebnis des eigenen Wunschdenkens ist. Der direkte Vergleich ist dennoch lohnenswert, offenbart er doch, wie sehr sich der Stil politischer Kommunikation über die Jahrzehnte verändert hat – und wie treu sich die liberalen Lösungsansätze geblieben sind.
Gesamtwirtschaftliche Analyse auf drei Zeilen
Zunächst stechen die rein formalen Unterschiede ins Auge: Während Lambsdorffs Konzept »ein eigenständiger Vorschlag« war, den er »in seiner Eigenschaft als Bundesminister für Wirtschaft« gemacht habe, handelt es sich bei dem jüngsten FDP-Papier lediglich um den Entwurf eines Entschlusses, der dem kommenden Parteitag vom Präsidium vorgelegt wird.
Vielleicht hat sich Lambsdorff deshalb seinerzeit wesentlich mehr Mühe gegeben als die heutigen Liberalen: Auf neun eng bedruckten Seiten, unterteilt in sechs Kapitel, erläuterte er seinen wirtschaftspolitischen Vorstoß. Ausführlich analysierte der Wirtschaftsminister in den ersten drei Kapiteln die ökonomische Lage des Landes, räsonierte zahlenunterfüttert über Investitions-, Staats-, Abgaben- und Kreditfinanzierungsquote, beklagte die Schwächung der Anpassungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die Erschütterung deren Selbstvertrauens und die Unsicherheit der Unternehmen bei Investitionsdispositionen und der Bereitstellung von Risikokapital.
Das aktuelle Papier umfasst gerade mal zwei Seiten, die Analyse der Lage erschöpft sich in der Feststellung, Deutschland falle im globalen Wettbewerb zurück, und kommt bereits nach drei Zeilen zum Schluss: »Deutschland braucht eine Wirtschaftswende«.
Wir müssen was machen
Und wie soll diese aussehen, so ganz grundsätzlich? Lambsdorff widmete dieser Frage das gesamte dritte Kapitel seines Konzepts, beleuchtete die bisherigen Ansätze der sozialliberalen Koalition, argumentierte gegen sozialdemokratische Rezepte und forderte für eine künftige Wirtschaftspolitik marktwirtschaftliches Handeln, eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, eine Umstrukturierung der Ausgaben und eine Anpassung der sozialen Sicherungssysteme. Christian Lindner und sein Präsidium sagen es kürzer: »Für mehr wirtschaftliche Dynamik müssen wir konsequent weiter an den entscheidenden Stellschrauben drehen« – ein Satz, von dem nach Streichung der politischen Worthülsen »konsequent«, »entscheidend« und »Stellschrauben« nicht viel mehr übrig bleibt als: Wir müssen was machen.
Wo, also auf welchen Politikfeldern was getan werden sollte, ist Gegenstand von Lambsdorffs fünftem und längstem Kapitel. Es ist unterteilt in die Unterkapitel A bis D, diesen sind eigene Leitlinien vorangestellt, auf die jeweils bis zu neun »Ansatzpunkte für konkrete haushaltspolitische Maßnahmen« folgen, teilweise wiederum ausdifferenziert von a) bis f). Es ist, in die heutige Zeit übersetzt, wie eines dieser gefürchtet länglichen und detailversessenen Videos des YouTubers Rezo, Titel womöglich: »Die Zerstörung der Koalition«. Das aktuelle Werk der FDP ließe sich hingegen problemlos als atemloses Stakkato auf TikTok vermarkten: zwölf knappe Punkte, keiner in mehr als fünf Sätzen ausgeführt. Die Inhalte müssen hier nicht ausgeführt werden, sie werden an anderer Stelle verhandelt. Bemerkenswert ist jedoch die Ähnlichkeit mancher Rezepte: Liberale Dauerbrenner damals wie heute waren und sind die Anhebung des Renteneintrittsalters, strengere Regeln für »zumutbare« Arbeit für Sozialhilfe- bzw. Bürgergeldempfänger, Bekämpfung der Bürokratie und der Abbau der kalten Progression bei der Einkommensteuer.
»Nur sehr unvollständig umgesetzt«
Otto Graf Lambsdorff blieb nach dem Koalitionsbruch Wirtschaftsminister unter Helmut Kohl (CDU), seine Partei besetzte dieses Amt bis 1998. Im Rückblick scheint er mit seinem Konzept eher wenig erreicht zu haben. »Da das neue wirtschaftspolitische Leitbild in der Folgezeit (…) nur sehr unvollständig umgesetzt wurde, ist das Lambsdorff-Papier (…) ein Schlüsseldokument für die Beharrungskraft des westdeutschen Gesellschaftsmodells«, urteilt das einführende Vorwort zu seinem Dokument in der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek. Offenbar haben all die Regierungsjahre der FDP dann doch nicht ausgereicht, um konsequent an den entscheidenden Stellschrauben zu drehen.
Das wollen die Liberalen womöglich auch heute gar nicht so richtig ernsthaft. Das Präsidium der Freien Demokraten halte die geforderten Maßnahmen »für ratsam« und werde »die Erreichung der unabweisbar notwendigen Wirtschaftswende anhand des Umfangs ihrer Umsetzung politisch einordnen«, heißt es verschwiemelt im Beschlussentwurf. Nach koalitionssprengender Entschlossenheit klingt das eher nicht.