Familienmitglieder in der Firma: Chef der Genfer Industriebetriebe geht per sofort – obwohl er «Opfer einer grossen Ungerechtigkeit» sei
Ist immer mehr in die Kritik geraten: Der abtretende SIG-Direktor Christian Brunier. ; Salvatore Di Nolfi / Keystone
Wer von aussen auf die stolze Republik Genf blickt, hat derzeit das Gefühl, dass alles ein grosser Klüngel sei: Ende März wurde bekannt, dass der Vater einer Staatsrätin neuer Informatikchef wird. Anfang April geriet eine Stadträtin ins Kreuzfeuer, weil ihre Amtschefin zuerst deren Halbschwester, dann Bekannte aus Paris rekrutiert hatte. Nun liegt der Fokus auf den Genfer Industriebetrieben (SIG), bei denen gleich vier Familienmitglieder des Direktors angestellt sind.
Die Fälle sind auf verschiedene Staatsebenen verteilt, unterschiedlich gelagert, und es ist auch bei keinem abschliessend beurteilt, ob es bei den Anstellungsprozessen zu Unregelmässigkeiten gekommen ist. Zufall ist es aber natürlich nicht, dass innerhalb weniger Wochen gerade so viele Verdachtsmomente ans Licht gekommen sind. Aufgeschreckt durch die Enthüllungen von «Léman bleu» und «Tribune de Genève», meldeten sich stets neue Behördenmitarbeiter bei den recherchierenden Lokalmedien.
Über das jüngste Ereignis – bei den Genfer Industriebetrieben – ist noch nicht viel bekannt. Klar ist aber jetzt schon: Es fordert ein prominentes Opfer. Wie die SIG am Dienstag anlässlich einer Pressekonferenz bekanntgaben, tritt der Direktor Christian Brunier mit sofortiger Wirkung zurück.
Ein schlechter Deal
Der radikale Schritt erfolgt aber nicht etwa, weil er damit die Konsequenzen aus einem Fehlverhalten zieht. Vielmehr fühle er sich als «Opfer einer grossen Ungerechtigkeit», sagte der SIG-Präsident Robert Cramer, der als langjähriger Ständerat und Grünen-Vizepräsident nationale Bekanntheit erlangt hat. Brunier sei von den Ereignissen «tief betroffen».
Das dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass der 60-Jährige sein ganzes Berufsleben den SIG gewidmet hat. Er hat als Lehrling angefangen und stieg vor zehn Jahren zum Direktor auf. Er habe fast rund um die Uhr gearbeitet und sei von seinen Mitarbeitern geschätzt worden, sagte Cramer. Auch weil er vor zwei Jahren einen Herzstillstand erlitten hatte, habe er sich entschieden, sich frühpensionieren zu lassen. Der Schritt wäre eigentlich per Ende 2023 geplant gewesen. Um der Nachfolgeplanung mehr Zeit zu lassen, wurde schliesslich Ende März 2025 als Austrittsdatum vereinbart.
Nun geht Brunier also ein knappes Jahr früher. Finanziell macht er damit einen schlechten Deal – ab sofort erhält er keinen Lohn mehr und verzichtet überdies auf den Bonus, auf den er für 2024 pro rata Anspruch gehabt hätte. Der Leidensdruck scheint für ihn gross gewesen zu sein.
Griff der Chef ein?
Was an den Vorwürfen der Vetternwirtschaft dran ist, wird sich in ein paar Wochen zeigen. Unbestritten ist, dass gleich vier Familienmitglieder – zwei Stiefsöhne, die Ehefrau des einen sowie ein Neffe – derzeit bei den SIG angestellt sind.
Das ist allerdings nicht per se verboten. Bei einem Unternehmen wie den SIG sei die Nähe zur Bevölkerung und ein enger Bezug zu den lokalen Gegebenheiten zentral, so Cramer. Also komme es regelmässig vor, dass die «Leidenschaft für die Industriebetriebe» von Generation zu Generation weitergegeben werde, sagte der Ex-Politiker und zeigte im Saal auf eine Mitarbeiterin der Kommunikationsdienste, deren Vater einst SIG-Verwaltungsrat war.
Problematisch wird es naturgemäss dann, wenn eine Führungsperson in den Rekrutierungsprozess eingreift und Familienmitglieder – oder auch Bekannte – daraufhin bevorzugt behandelt werden. Gemäss «Le Temps» kam es zumindest in einem Fall zu einer Einmischung eines Vorgesetzten, die zur Anstellung der (späteren) Ehefrau des Stiefsohns geführt habe. Unklar ist – sofern die Vorwürfe zutreffen –, ob Brunier selbst den Auftrag erteilt oder ein Untergebener aus vorauseilendem Gehorsam so gehandelt hat.
Derartige Fragen soll nun ein Untersuchungsbericht klären, den der Verwaltungsrat am Dienstag in Auftrag gegeben hat. Gegenwärtig wird die externe Fachperson gesucht, die den Auftrag ausführen wird. Welche Sanktionen im Falle von «Treffern» möglich sind, wollte Cramer vor den Medien nicht ausführen.
22 Millionen Franken zu viel berechnet
Der SIG-Chef Brunier nimmt den Hut vor allem aufgrund der Turbulenzen rund um die Anstellungen. Geschwächt war er allerdings schon zuvor: Erst im Februar enthüllte der in Genf mächtige Rechnungshof (LINK), dass die Industriebetriebe zwischen 2008 und 2021 bei ihren Kunden 22 Millionen Franken zu viel einkassiert hatten.
Der Fehler passierte, weil Netzverluste falsch berechnet wurden. Auch hier stellt sich die Frage, ob Brunier ein Verschulden trifft – laut Rechnungshof gab es dazu durchaus interne Diskussionen. Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (Elcom) hat die Berechnungen der SIG allerdings stets validiert.
Auch zu diesen Punkten wird es nun eine externe Untersuchung geben, die allfälliges Fehlverhalten aufzeigen soll. Unabhängig davon haben die Industriebetriebe bereits beschlossen, die 22 Millionen Franken an die Bevölkerung zurückzugeben. Cramer dämpfte allerdings allfällige Erwartungen: «Damit werden Sie nicht in die Ferien fahren können», sagte er an die Adresse der (Genfer) Journalisten. Pro Haushalt wird es eine Gutschrift von rund zwanzig Franken geben.