Valeria Kägi arbeitet als Forensic Nurse: «Das typische Opfer eines Sexualdelikts gibt es nicht»

Als Forensic Nurse sichert Valeria Kägi Gewaltspuren am Körper von Menschen. Blick erzählt sie, wie das funktioniert, was sie Betroffene als Erstes fragt – und welche Fälle ihr zu schaffen machen.

valeria kägi arbeitet als forensic nurse: «das typische opfer eines sexualdelikts gibt es nicht»

«Das typische Opfer eines Sexualdelikts gibt es nicht»

Wenn Valeria Kägi (39) zu einem Einsatz ausrückt, ist es eigentlich schon zu spät. Eine Person wurde geschlagen, gewürgt, vergewaltigt.

Valeria Kägi ist Forensic Nurse am Institut für Rechtsmedizin (IRM) der Universität Zürich. Die Pflegefachfrau ist speziell dafür ausgebildet, Menschen zu untersuchen, die Gewalt erfahren oder ausgeübt haben. Sie sichert Spuren an ihrem Körper.

Es ist ein Beruf voller vermeintlicher Widersprüche, einer, der keine Fehler verzeiht und der auch bei Valeria Kägi Spuren hinterlässt. Gleichzeitig ist es ein Beruf, den sie nicht mehr hergeben würde und der in der Schweiz wohl oder übel gefragt ist.

Begonnen hat Valeria Kägis Weg auf der Unfallchirurgie eines Spitals. «Dort habe ich über zehn Jahre gearbeitet», erzählt sie beim Gespräch am IRM in Zürich. Immer wieder begegneten ihr damals Menschen, die häusliche oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, meist Frauen. Und oft fehlte etwas Entscheidendes. «Im Spital ist vieles bis ins kleinste Detail geregelt – wie man Infusionen vorbereiten oder sich die Hände desinfizieren muss. Aber wie man mit einer gewaltbetroffenen Person umgeht, war nirgends detailliert und einheitlich beschrieben.»

Kägi blieb zurück mit vielen offenen Fragen. Bis sie zum ersten Mal von Forensic Nursing hörte. Sie suchte nach Informationen im Internet. «Denn hier in der Schweiz gab es nichts.»

Forensic Nursing gilt als eine Art Schnittstelle zwischen dem Gesundheits- und Rechtssystem. Die Pflegespezialisierung kam in den 70er-Jahren in den USA auf und ist dort mittlerweile stark im Gesundheitswesen verankert.

In der Schweiz bietet die Universität Zürich in Zusammenarbeit mit dem IRM seit 2015 das Certificate of Advanced Studies (CAS) in Forensic Nursing an. Seither haben knapp 140 Studierende die Weiterbildung abgeschlossen, Valeria Kägi war im ersten Jahrgang. «Ich möchte den Opfern helfen, zu Gerechtigkeit zu kommen», schrieb sie in ihrer Bewerbung.

Empathisch, aber objektiv

Heute versucht sie die Worte «Opfer» und «Täter» zu vermeiden. Denn sie weiss genau, bis wohin ihre Kompetenzen reichen.

«Das Markenzeichen einer Forensic Nurse ist ihre Objektivität. Begriffe wie Opfer und Täter sind bereits eine juristische Würdigung. Wir interpretieren nicht, wir dokumentieren. Und das so genau und vollständig wie möglich.»

Bisher ist es die Polizei, die Valeria Kägi zu einem Einsatz aufbietet, entweder auf die Polizeistation oder in ein Spital. Dort untersucht sie zusammen mit einer Kollegin oder einem Kollegen vom IRM die betroffene Person vom «Scheitel bis zur Sohle». Betroffene heisst: mutmasslich Gewaltausübende sowie jene, denen Gewalt angetan wurde, Männer wie Frauen.

Kägi kämmt durch Haare, schaut entlang von Oberschenkelinnenseiten und unter Augenlider. Sie kratzt unter Fingernägeln und rollt Wattestäbchen über die Haut. «Ich nehme die Befunde der Verletzungen auf, mache Fotos, sichere Fremd-DNA.» Je nach Auftrag der Staatsanwaltschaft beschafft sie Blut- und Urinproben und bewahrt die Kleidung auf.

Bei Fällen von sexualisierter Gewalt führt ein Gynäkologe oder eine Gynäkologin – sofern die betroffene Person einwilligt – im Spital die Untersuchung der Genitalien durch. Valeria Kägi assistiert und dokumentiert.

Neu: Forensische Untersuchungen auch ohne Polizei

Ab dem zweiten Quartal 2024 werden Valeria Kägi und ihr Team solche forensischen Untersuchungen unter neuen Voraussetzungen vornehmen. «Der Regierungsrat richtet am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich den aufsuchenden Dienst ‹Forensic Nurses› ein», schrieb der Kanton Zürich im November 2023 in einer Medienmitteilung. Er möchte mit dieser Neuerung Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt besser schützen.

Neu können diese forensischen Untersuchungen auf Abruf auch durchgeführt werden, ohne dass die Polizei im Spital mit dabei ist. Die Anzeige kann danach erstattet werden. Valeria Kägi ist überzeugt: Das «Zürcher Modell» wird die Situation verbessern. «So können wir Betroffenen niederschwelliger und individueller helfen – indem wir sie vor Ort in den Spitälern betreuen.»

Auch die Qualität der Spurensicherung werde verbessert, weil die Untersuchung von einer speziell dafür geschulten Person und nicht von bereits überlastetem, meist ungeschultem Spitalpersonal durchgeführt werde, wie es bisher der Fall ist, wenn nicht die Polizei das IRM aufbietet.

Eine forensische körperliche Untersuchung kann zwei bis drei Stunden dauern und verlangt äusserste Präzision – sollen die gesicherten Spuren später vor Gericht als Beweismittel standhalten. Gerade bei Sexualdelikten ist dies entscheidend. Denn sie werden meist unter vier Augen verübt. Oft steht Aussage gegen Aussage.

Wunden korrekt zu beschreiben, ist anspruchsvoll

Diese nötige Genauigkeit schärft Valeria Kägi jeweils ihren Studierenden ein. Mittlerweile ist sie Co-Studiengangsleiterin des CAS Forensic Nursing und unterrichtet an der Universität Zürich.

An einem Kurstag im Januar zeigt sie ihrer 34-köpfigen Klasse Fotos von Prellungen, Stichwunden, Verbrennungen, Strangulations- und Würgemalen.

«Schreiben Sie in der Wunddokumentation nicht: ‹Hämatom wegen häuslicher Gewalt.› So würden Sie bereits interpretieren. Ihre Dokumentation muss objektiv sein. Wir sind keine Detektive.»

Wie die Verletzung entstanden ist – diese Einschätzung wird später ein Rechtsmediziner oder eine Rechtsmedizinerin vornehmen, basierend auf der Dokumentation einer Forensic Nurse. Alles andere wäre vor Gericht «gefundenes Fressen für den Strafverteidiger», mahnt Kägi nochmals.

Die Studierenden üben also für die Praxis, kleben sich Wundtattoos auf, vermessen die künstlichen Verletzungen mit einem Winkel, suchen nach den richtigen Worten für Wundränder und Verletzungsfarben, dokumentieren alles auf speziellen Papierbögen.

Das vermeintliche Hämatom – eine circa zwei Zentimeter breite und fünf Zentimeter lange blauviolette Verfärbung der Haut, circa zwei Zentimeter über dem Ellbogen auf der Vorderseite des rechen Arms.

Untersuchungen nicht erst im Notfall üben

Valeria Kägi schaut der Gruppe zu, korrigiert, ergänzt. «Wichtig: Gerade bei sexualisierter Gewalt sind von aussen oft keine Verletzungen sichtbar. Das heisst aber nicht, dass keine Gewalt stattgefunden hat.»

Für die Sicherung von Spuren sexualisierter Gewalt hat das IRM ein sogenanntes «Rape Kit» entwickelt, das Spitäler beziehen können. In der mintgrünen Untersuchungsbox finden sich unzählige Abstrichstäbchen, Röhrchen, Mikroskopplättchen und Flüssigkeiten. Auch hier ist die Anwendung komplex und muss einem genau festgelegten Schema folgen.

«Meist öffnet das Spitalpersonal diese Box zum ersten Mal, wenn eine Person bereits auf dem Notfall sitzt», sagt Kägis Mitdozentin Dominice Häni. Zusammen leiten die beiden den Bereich Forensic Nursing am IRM.

«Ich brauchte ungefähr 20 Untersuchungen, um eine gewisse Routine zu gewinnen», sagt Kägi. Zu Beginn habe sie ihre Unsicherheit mit Fragen überbrückt, von denen sich besonders eine im forensischen Bereich genauso bewährt hat wie damals auf der Unfallchirurgie.

Betroffenen die Kontrolle zurückgeben

«Wie geht es Ihnen?» Diese Frage etwa stellt Valeria Kägi, sobald sie sich mit einer betroffenen Person in einem geschützten Rahmen befindet. «So kann man viel herausspüren.»

Das ist wichtig. Denn: Das typische «Opfer» von Sexualdelikten oder häuslicher Gewalt gebe es nicht. Jeder Fall sei anders. So auch die Bedürfnisse der Betroffenen, die an erster Stelle stünden. Und die auch mal gegen den eigenen Gerechtigkeitssinn laufen.

Kägi hat gelernt, zu akzeptieren, dass eine Frau manchmal nur ihre Verletzungen versorgen lassen und danach wieder gehen möchte.

«Natürlich habe ich dann ein schlechtes Gefühl.» Was ihr bleibt: die Betroffene aufzuklären über Hilfs- und Schutzangebote, die über die Optionen «Anzeige oder keine Anzeige» hinausgehen.

Gesicherte Spuren bedeuten noch keine Verurteilung des Täters

Valeria Kägi ist sich der Grenzen ihres Berufsfelds sehr bewusst. Sie weiss, dass sie ihre Arbeit noch so korrekt ausführen kann und ein Täter dennoch nicht zwangsläufig verurteilt wird, erst recht nicht bei Sexualdelikten, wo die Verurteilungsrate sehr tief ist.

«Ein Fall ist wie ein Puzzlespiel. Wir von der Rechtsmedizin liefern vielleicht 300 von 1500 Teilen.» Die restlichen Teile liefern die weiteren polizeilichen Ermittlungen, Zeugenaussagen, Gutachten, die Strafverteidigung.

Kägi wirkt nicht resigniert, wenn sie das sagt. Aber für Aussenstehende ist es schmerzlich realistisch.

Doch kalt lässt sie ihre Arbeit nicht. «Bei Sexualdelikten ist da oft schon eine Vorgeschichte, teils seit der Kindheit. Das macht mich nachdenklich.»

An schweren Tagen werde sie vom Team gefragt: «Frau Kägi, wie geht es Ihnen?» Wie sie es selbst oft hört in ihrem Beruf, antwortet sie manchmal: «Ich möchte gerade nicht darüber sprechen.»

Am IRM gibt es für Mitarbeitende professionelle psychologische Unterstützung. Zu Hause fragt sie ihren Partner auch einfach mal, ob er sie in den Arm nehmen könne.

Ihr Beruf hat sie auch vorsichtiger gemacht. Sich selbst fragt sie: «Wo gehe ich in den Ausgang, mit wem, was ziehe ich an?» Über andere urteile sie nicht.

Valeria Kägi wünscht sich vor allem zwei Dinge für die Zukunft.

Erstens: mehr Forensic Nurses. Die Disziplin soll stärker anerkannt werden, auch finanziell. Häusliche und sexualisierte Gewalt sind in der Schweiz weit verbreitet, wie Umfragen und Zahlen zeigen. Der Bedarf für Weiterbildungen ist gross. Und das Gesundheitspersonal bis heute oft überfordert mit Gewaltbetroffenen, wie Gespräche mit den CAS-Teilnehmenden zeigen.

Als Zweites wünscht sich Valeria Kägi etwas, das sie einen Teil ihrer Arbeit kosten könnte: Sie möchte, dass die Gesellschaft stärker über häusliche und sexualisierte Gewalt aufgeklärt wird. Damit diese aufhört.

Davon aber ist man in der Schweiz noch weit entfernt. So wird es weiter zu spät sein, wenn Valeria Kägi ausrückt. Und doch wird sie jedes Mal noch etwas retten können.

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