Der Anarcho-Kapitalist Javier Milei ist zum neuen Präsidenten gewählt worden. Er will das Land in einen libertären Musterstaat verwandeln.
In der NZZ gibt Gerhard Schwarz, der ehemalige Wirtschaftschef ebendieser Zeitung und spätere Direktor von Avenir Suisse, bereits Entwarnung. Die Angst vor Javier Milei, dem frisch gewählten Präsidenten von Argentinien, sei unangebracht, stellt er fest. Der Mann sei kein anarchistisches Monster, wie er allgemein in den Medien dargestellt werde; und seine marktwirtschaftlichen Überzeugungen seien nicht «rechts, sondern Ausfluss der liberalen Vernunft sowie des Scheiterns der bisherigen Politik».
Milei ist ein bekennender Libertärer, und tatsächlich muss diese Weltanschauung nicht grundsätzlich rechts und schon gar nicht konservativ sein. Der geistige Vater der Libertären ist Ludwig von Mises, ein Österreicher, der in seiner Jugend mit dem Sozialismus geflirtet hat und als Jude später via Genf in die USA ausgewandert ist.
Hat die libertären Theorien populär gemacht: die Schriftstellerin Ayn Rand.
Von Mises plädierte für die reine Form eines Nachtwächter-Staates, eines Staates, in dem Polizei und Armee die Sicherheit der Bürger garantieren und der sich sonst eigentlich aus allem heraushält, vor allem aus dem Markt. Das heisst: keine den Markt-Mechanismus einschränkenden Gesetze, keine Zentralbank und schon gar keinen Sozialstaat.
Von Mises Schriften eignen sich schlecht als Gute-Nacht-Lektüre. Sein Gedankengut unter die Menschen gebracht hat vor allem die Schriftstellerin Ayn Rand. Die Tochter eines Apothekers aus St.Petersburg flüchtete 1921 mit ihren Eltern vor den Kommunisten ebenfalls in die USA. Dort wurden sie und ihre Romane bald Kult. Die bekanntesten von ihnen heissen «Atlas Shrugged» und «The Fountainhead».
Diese Wälzer zu lesen, grenzt zwar an Folter, handelt es sich doch um eine literarisch plumpe Umsetzung des Immergleichen: Tüchtige Unternehmer werden von faulen Gewerkschaften, korrupten Beamten und dekadenten Intellektuellen gepiesackt. Doch der Einfluss Rands kann nicht überschätzt werden. «Atlas Shrugged» ist zwar 1957 erschienen, gehört aber heute noch zu den 30 am meisten verkauften Büchern bei Amazon.
Kein Wunder also, geben Libertäre meist Rand, oft zusammen mit J.R.R. Tolkien und dessen «Herr der Ringe», als ihre Inspiration an.
Auch ihn kann man als libertär bezeichnen: Rockstar und Bürgerschreck Frank Zappa.
Vor allem in Kalifornien stiess das libertäre Gedankengut auf fruchtbaren Boden, und zwar rechts und links. Den Bürgerschreck Frank Zappa etwa darf man als Libertären bezeichnen. Auch bei den Hippies waren diese Ideen weitverbreitet, setzen sich Libertäre doch öfters für freien Drogenkonsum und die Duldung aller Formen des Austausches von Körpersäften ein. Einige sind gar erklärte Pazifisten.
Ritt einst ebenfalls auf der libertären Welle: Peter Thiel, Tech-Milliardär.
Auch die Tech-Milliardäre Elon Musk und Peter Thiel haben einen Hang zu libertärem Gedankengut. Überhaupt erfreut sich Ayn Rand gerade im Silicon Valley grosser Beliebtheit. Das Mantra von Mark Zuckerberg – «move fast and break things» (handelt rasch und zerstört Dinge) – könnte direkt aus einem ihrer Romane stammen.
Die Cypherpunks, die Erfinder des Bitcoins, sind ebenfalls vom libertären Gedankengut inspiriert. Von Mises gehört zu ihren wichtigsten Vordenkern. Mit der Kryptowährung wollen diese anarchistischen Kapitalisten einer dezentralisierten Wirtschaft ohne Zentralbank und Fiat Money zum Durchbruch verhelfen – oder sie geben das zumindest vor.
Javier Milei hat viele dieser Eigenschaften. Sein wirres Haar und sein ungepflegtes Aussehen passen bestens zum Image der Cypherpunks. Er war in seiner Jugend Sänger in einer Rockband, und er verachtet den bürgerlichen Staat aufs Tiefste. Den Papst bezeichnet er gar als «teuflischen Linken».
Ökonomisch liegt er auf der klassischen libertären Linie. Er bewundert nicht nur Übervater von Mises, sondern auch Murray Rothbard, einen amerikanischen Ökonomen, der dessen Theorien weiterentwickelt und zugespitzt hat. Ebenso setzt er die Theorie der «schöpferischen Zerstörung» von Joseph Schumpeter – einem weiteren von den Libertären bewunderten österreichischen Ökonomen – geradezu bildlich um. Die Reden an seinen Wahlkampfveranstaltungen pflegt er öfters mit einer Kettensäge zu untermalen.
Oft mit einer Kettensäge unterwegs: Javier Milei.
Die Zerstörung des bürgerlichen Staates ist denn auch das erklärte Ziel Mileis. Er will dies, indem er an die Wurzeln dessen geht, was er als grösstes Übel erkannt zu haben glaubt: die Zentralbank. Diese soll abgeschafft und der argentinische Peso durch den US-Dollar als Währung ersetzt werden. Dass in den Neunzigerjahren eine ähnliche Übung unter dem damaligen Präsidenten Carlos Menem Argentinien ins Elend führte, lässt Milei kalt.
Ob man daher wie Gerhard Schwarz Mileis Wirtschaftspolitik tatsächlich als «Ausfluss liberaler Vernunft» bezeichnen kann, darf zumindest bezweifelt werden. Verheerend ist es jedoch, wenn man die dunkle Seite von Milei ganz einfach ausblendet, oder zumindest weichspülen will, wie dies der ehemalige NZZ-Wirtschaftschef tut.
Es gibt einen Grund, weshalb Tucker Carlson Milei im Vorfeld der Wahlen in einem unterwürfigen Interview über den Klee lobte, genauso wie es kein Zufall ist, dass ihm Donald Trump wärmstens zu seinem Sieg gratuliert hat. Milei will nicht nur den Staat in seine Einzelteile zerlegen, er will die Abtreibung verbieten, die Steuern auf ein Minimum reduzieren und alle Massnahmen gegen die Klimaerwärmung stornieren, hält er diese doch für eine Verschwörung der Linken. Dass er auch die schweren Verbrechen an der Menschlichkeit der argentinischen Militärs in den Achtzigerjahren verniedlicht, passt ins Bild.
Auch hier wiederholt Milei ein Muster, das sich bei sehr vielen Libertären beobachten lässt. Sie führen sich oberflächlich als die ultimativen Kämpfer für die individuelle Freiheit auf. Doch bei den meisten gibt es eine dunkle autoritäre Seite. Das kann man etwa bei Elon Musk genauso beobachten wie bei Peter Thiel, seinem ehemaligen Geschäftspartner bei PayPal.
Argentinien hat eine tragische Geschichte. Die Wahl Mileis ist daher auch Ausdruck einer tiefen Verzweiflung einer Bevölkerung, die seit Jahrzehnten miterleben muss, wie ein an sich reiches, mit Rohstoffen gesegnetes Land immer tiefer im Elend versinkt.
Doch die Argentinier sind leider keine Ausnahme. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat in seinem Buch «Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus» die Szene der Querdenker untersucht. Gerade in dieser Szene sind Libertäre überdurchschnittlich hoch vertreten.
In seiner Analyse kommt Nachtwey, der an der Universität Basel tätig ist, zu einem ernüchternden Schluss. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» führt er die Gründe für den aktuellen Höhenflug des libertären Gedankenguts an.
Weil die Versprechen des Fortschritts für sehr viele Menschen nicht erfüllt worden seien, so Nachtwey, «entsteht eine Offenheit für radikale Alternativen. Eine Offenheit für dekadent fanatische rechtslibertäre Kräfte, die das Motto haben: Lasst uns die Institutionen kaputt machen. Eine Offenheit für Figuren wie Donald Trump, Jair Bolsonaro in Brasilien und Javier Milei in Argentinien.»
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