Selbstbestimmungsgesetz: Jubel und Protest vor dem Bundestag

selbstbestimmungsgesetz: jubel und protest vor dem bundestag

Vor dem Reichstagsgebäude gab es am Freitag Kundgebungen mehrerer Gruppen zur Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes. Viele aus der queeren Community halten es für einen Grund zum Feiern – aber sehen auch noch viel Luft nach oben.

Als der Aktivist Kalle vom Bundesverband Trans am Freitagvormittag vor dem Reichstagsgebäude spricht, beschreibt er den Weg zu diesem Moment als „eine emotionale Achterbahn“ für seine Community.

Er spricht zum Anlass der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes; nach dessen Inkrafttreten am 1. November dieses Jahres wird das Gesetz Transpersonen ab 14 Jahren in Deutschland ermöglichen, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen in offiziellen Dokumenten beim Standesamt ohne die Notwendigkeit medizinischer Gutachten ändern zu können. Damit gehen 42 Jahre „Abwertung und Andersbestimmung“ durch das nun abgeschaffte Transsexuellengesetz zu Ende, sagt Kalle zu Jubel und Applaus.

Allerdings fühlt es sich am Platz der Republik nicht so an, als ob diese Achterbahn nun zum Stillstand käme. Auf dem Platz haben sich zwei Protestgruppen gebildet. Auf der rechten Seite neben der Scheidemannstraße stehen etwa 300 Menschen aus der queeren Community – weiß-hellblau-pinke Trans-Fahnen wehen im Wind, Sprechchöre rufen: „Wir sind viele, wir sind hier, Selbstbestimmung wollen wir“. Linker Hand an der Paul-Löbe-Allee demonstriert eine weitere Gruppe von etwa 100 Personen, überwiegend Frauen, die gegen die Gesetzesverabschiedung sind. Aus ihrer Perspektive ist das neue Gesetz „ein Sargnagel für Frauen- und Lesbenrechte“, wie auf einem Transparent zu lesen ist.

Nicht nur auf der Seite der Gegner gibt es rege Kritik an dem Gesetz. „Dieses Selbstbestimmungsgesetz fällt weit hinter die Wahlversprechen der Ampelkoalition zurück“, sagt Lola Günther, Sprecherin des Bündnisses „Selbstbestimmung selbst gemacht“ (SBSG). Ihre Organisation kritisiert unter anderem, dass im Gesetz kein Grundrecht auf transmedizinische Gesundheitsversorgung verankert wird, und dass es Klauseln enthält, etwa den Hausrechtsparagrafen, die einen „Generalverdacht“ vor allem gegen Transfrauen schürt. „In einigen Punkten ist dieses Gesetz sogar schlimmer als das Transsexuellengesetz“, so die Sprecherin. „Das ist nicht die Selbstbestimmung, die wir uns gewünscht hätten.“

selbstbestimmungsgesetz: jubel und protest vor dem bundestag

Sebastian V. nimmt an der Kundgebung zur Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes teil. Er findet die Kritik am neuen Gesetz berechtigt. Ein Grund zum Feiern ist es dennoch.

Andere Teilnehmer wie Sebastian V. sehen die Verabschiedung des neuen Gesetzes deutlich positiver. „Es fühlt sich wie damals bei der Ehe für alle an“, sagt er. „Endlich werden den Menschen ihre Rechte zugestanden.“ Dass es Kritik an den Einzelheiten des Gesetzes gibt, findet er aber auch nicht schlecht. „Es ist auf jeden Fall richtig, dass wir jetzt weiterkämpfen“, sagt er. „Wir sind lange nicht am Ziel.“

Eine Kette aus weißen, hellblauen und pinken Ballons trennt die Zone des „Community Viewings“ der Debatte im Bundestag vom Rest des Platzes der Republik ab. Die Trillerpfeifen der zweiten Protestgruppe sind dennoch gut zu hören; sie klingen immer wieder zustimmend während der Redebeiträge der Demonstrantinnen. Es wird vor einer langen Reihe böser Folgen durch das neue Gesetz gewarnt: Da heißt es, Frauen würden aus dem Sport ausgeschlossen, in Schutzräumen angegriffen, es werde eine „Jagdsaison auf lesbische Frauen“ geben.

selbstbestimmungsgesetz: jubel und protest vor dem bundestag

Eine Gruppe von Frauen demonstriert vor dem Reichstagsgebäude gegen das Selbstbestimmungsgesetz. Die Demonstrantinnen sehen dadurch Frauenrechte gefährdet.

„Unsere Seite wurde gar nicht gehört“, sagt Heti Lohmann, die einen Schild trägt, das den Rücktritt der Frauenministerin Lisa Paus (Grüne) fordert. Auf der anderen Seite steht „Finger weg von Mädchen und Frauen!“. „Es kann nicht sein, dass ein Kind von 14 Jahren ohne Elternzustimmung in diesen Prozess einwilligt, der dann mit Hormonen und nur Gewinn für die Pharmaindustrie weitergeht“, so Lohmann. In der Tat brauchen 14- bis 17-Jährige immer noch die Zustimmung eines Erziehungsberechtigten, um den Geschlechtseintrag zu ändern.

Die Freude auf das Gesetz auf der anderen Seite des Platzes kann Heti Lohmann kaum verstehen. „Wir haben nichts gegen Transmenschen, das sind aber Aktivisten“, sagt sie über die andere Protestgruppe. Sie sei lange in der feministischen Frauen- und Lesbenbewegung unterwegs und habe über viele Jahre Kurse für Frauen und Mädchen geleitet. „Heute hört man gar nichts mehr über Frauen und Mädchen, wir werden ausgeblendet“, sagt sie.

Bei der Gruppe auf der anderen Seite ist immer wieder die Rede von Transmisogynie und der Dämonisierung von Transfrauen. Diese hätten in den letzten Jahrzehnten die Debatte zu Transrechten durchseucht, so Lola Günther. Sie gibt die Schuld dafür Menschen wie Heti Lohmann und ihren Mitdemonstrantinnen, die von „Männern, die sich für Frauen halten“ sprechen.

Auf dem Feld zwischen den beiden Lagern ist die Stimmung gespannt. Heute, so spürt man es, wird ein produktiver Austausch zu diesem Thema kaum möglich sein.

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