ESC 2024: Experte Elmar Kraushaar bereitet uns auf den Contest in Malmö vor
Großer Auftritt, begleitet von Protesten: Eden Golan tritt für Israel an.
Der Eurovision Song Contest wird 68 Jahre alt, eine lange Geschichte, begleitet von vielen Legenden. Eine erzählte man sich oft in den vergangenen Jahren: Immer im Mai sind für eine Woche die schwulen Clubs und Kneipen Tel Avivs wie leergefegt, alle sind stattdessen live beim ESC dabei. Der Beweis waren die unzähligen israelischen Flaggen, die dann im Publikum zu sehen waren – kein anderes Land zeigte so viel Begeisterung.
Das ist anders in diesem Jahr, die Fahnen mit dem blauen Davidstern auf weißem Grund lassen sich an einer Hand abzählen. Über die Gründe für die Abwesenheit der israelischen Fans lässt sich nur spekulieren. Noch wirkt die Trauer nach über den mörderischen Überfall der Hamas am 7. Oktober des vergangenen Jahres, dazu die Angst um die Männer, Frauen und Kinder, die noch immer in Geiselhaft sind. Seitdem die israelische Armee im Gazastreifen in kriegerischer Auseinandersetzung die Hamas besiegen will, kommt es weltweit vermehrt zu Protesten gegen die israelische Regierung und zu Solidarisierungen mit den zivilen Opfern im Gazastreifen.
Protestiert wurde auch im Vorfeld zum ESC gegen eine Teilnahme Israels, besonders in den skandinavischen Ländern, allen voran in Schweden, dem diesjährigen Gastgeber. Die European Broadcasting Union (EBU) als Veranstalter musste reagieren. Immer darum bemüht, den unpolitischen Charakter des Festivals zu betonen, kam sie in diesem Jahr nicht daran vorbei, die politische Lage in Nahost zumindest zur Kenntnis zu nehmen.
Entsprechend hilflos fiel die Reaktion der Verantwortlichen aus: Eine Absage an Israel wollte man nicht wagen, also wurde das eingereichte Teilnehmerlied auf politische Inhalte geprüft, die laut EBU-Statuten nicht erlaubt sind. Und man wurde fündig. „October Rain“ hieß der Song zunächst, das sei wohl als Anspielung auf das Massaker vom 7. Oktober zu verstehen.
Der in Israel für den Wettbewerb zuständige TV-Sender KAN weigerte sich, den Text zu ändern – bis Israels Staatspräsident Yitzhak Herzog einschritt und ein Machtwort sprach: Gerade in dieser Situation müsse Israel beim ESC antreten, um seine Stimme in der Welt zu erheben. Das Lied wurde geringfügig umgeschrieben und unter dem neuen Titel „Hurricane“ schließlich von der EBU akzeptiert.
Getrieben in ihrem zögerlichen Verhalten wurde die EBU auch von der Angst, dass die skandinavischen Länder ihre Drohung wahrmachen und dem ESC fernbleiben. Das hätte womöglich ein Ende der ESC-Geschichte bedeutet, schließlich kommen, mit Einschaltquoten von bis zu 90 Prozent, gerade aus diesen Ländern die meisten ESC-Fans, sie bilden das Rückgrat des Wettbewerbs.
Am Austragungsort: In Malmö haben sich längst propalästinensische Proteste formiert.
Ungeachtet des vorläufigen Einvernehmens in dem Konflikt ist die Situation noch nicht bereinigt. Seit Wochen herrscht Unruhe in Malmö, der Gastgeberstadt: Demonstranten gegen eine Teilnahme Israels haben sich angemeldet, am Donnerstag, dem zweiten Halbfinaltag, ziehen mehr als zehntausend Menschen durch die Innenstadt, die schwedische Polizei ist, unterstützt von Einheiten aus Norwegen und Dänemark, präsent in den Straßen und in der Luft. In der Halle waren noch bei den Proben am Vortag laute Pfiffe zu hören, als Eden Golan, die Vertreterin Israels, die Bühne betrat. Buhrufe gab es auch am Donnerstagabend, doch weitaus weniger als erwartet.
Es ist kaum ein ESC-Jahrgang erinnerlich, bei dem die Sicherheitsvorkehrungen für eine teilnehmende Künstlerin oder einen Künstler so umfassend waren wie in diesem Jahr. Eden Golan wurde in einem Hotel untergebracht, dessen Name geheim bleibt. Ihr wurde nahegelegt, trotz eines Leibwächters auf keinen Fall ihr Zimmer zu verlassen. Alle Befürchtungen im Vorfeld haben sich bislang nicht bewahrheitet, die Demonstrierenden konnten in Schach gehalten werden, Eden Golan wurde von den Televotern eine Runde weiter gewählt und darf am heutigen Finalabend noch einmal ihr Lied „Hurricane“ präsentieren.
Die Auseinandersetzung um die Teilnahme Israels macht diesen Jahrgang zur Ausnahme, aber das ist nicht die einzige Besonderheit: Noch nie war ein ESC so laut wie diesmal. In den ESC-Anfangsjahren reichten eine breite Treppe und ein paar Blumenkübel für das Bühnenbild, später kam als technische Neuerung die Windmaschine hinzu. Aber heute toben die vier Elemente auf der Bühne, so als müsse sich die katastrophale weltweite Klimalage auch auf der Bühne wiederfinden.
Fast jeder Beitrag wurde begleitet von Blitz und Donner, die Erde öffnete sich hin und wieder, haushohe Meereswellen näherten sich gefährlich über die LED-Würfel, Feuersalven begleiteten beinahe alle Songs. Besonders hervorgetan mit den Flammen hat sich Deutschlands Teilnehmer Isaak, der am ersten Halbfinalabend seinen Titel vorstellen durfte.
Gucken statt Hören: Der deutsche Beitrag Isaak setzt auf eine ablenkende Feuershow.
Bei ihm brannte gleich die ganze Hütte. Das ergab zwar keinen Sinn und hatte auch wenig Bezug zu seinem Liedtext, wirkte aber spektakulär. Der ganze Budenzauber scheint nur einen Zweck zu verfolgen: Leute, lasst euch nicht ablenken von Musik und Text, schaut auf die Inszenierung und lasst euch überfluten von grellen Lichtern und furiosen Bildern. Der ESC bringt uns auf den neuesten Stand der Bühnentechnik, die Lieder werden als Beiwerk mitgeliefert.
Das deutsche Publikum durfte in diesem Jahr besonders gespannt sein auf den neuen Kommentator: Thorsten Schorn. Er löste Peter Urban ab, der sich nach 25 Jahren in den Ruhestand verabschiedet hat. Also Zeit für einen Neuanfang? Weit gefehlt. Schorn setzte alte Traditionen fort, genauso behäbig und mit einem Humor, der keiner ist. So als sei der Urban-Geist noch immer mit dabei. Tatsächlich ist es auch so: Lukas Heinser, viele Jahre der Ghostwriter für die mageren Urban-Gags, steht auch im Dienst von Thorsten Schorn.
Der ESC ist eine Domäne der LGBTQIA+-Community, vor allem die kulturelle Heimat für schwule Männer aus ganz Europa. Das durfte man vor 20 Jahren nur vorsichtig andeuten und wurde sofort mit Dementis konfrontiert, um den guten Ruf des Wettbewerbs zu erhalten. Das hat sich komplett geändert, ist längst als Tatsache im Mainstream angekommen. Dana International (1998) und Conchita Wurst (2014) haben Pionierarbeit geleistet, und in diesem Jahr übertrumpfen sich die Künstlerinnen und Künstler mit Erklärungen über ihre sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität.
Weder als Mann noch als Frau, also nichtbinär, verstehen sich die Vertreter aus der Schweiz und aus Irland, schwul sind die Sänger aus Belgien, aus Großbritannien und aus Australien, lesbisch sind die dänische Sängerin und die aus San Marino, bisexuell wiederum der Vertreter Litauens. Das ist der neueste Höhepunkt queerer Sichtbarkeit beim ESC und wird von der gleichfühlenden Fan-Gemeinde gebührend gefeiert.
Ach so: Eins bleibt noch nachzutragen für den heutigen Finalabend. Traut man den Wettbüros und den Berechnungen der Fan-Blogs, stehen die Gewinner und die Zweit- und Drittplatzierten schon fest. Siegen werden demnach entweder Nemo aus der Schweiz oder Baby Lasagna aus Kroatien, gefolgt von Joost Klein aus den Niederlanden, Slimane aus Frankreich, Eden Golan aus Israel und dem Duett Alyona Alyona und Jerry Heil aus der Ukraine.
Und Deutschland? Die Vorhersagen für Isaak und seinen Song „Always On The Run“ schwanken zwischen letztem und vorletztem Platz. Das nennt man Traditionspflege.