Es muss ja nicht gleich die Apokalypse sein
Wann haben Sie Ihre letzte Tierdoku gesehen, vielleicht über afrikanische Savannenelefanten in Botswana oder die Große Hufeisennase, eine europäische Fledermausart? Unser blauer Planet wird von einer unüberschaubaren Vielzahl faszinierender, wilder Lebewesen bewohnt, viele von ihnen sind Säugetiere. Wobei, hoppala, so viele sind es im Vergleich gar nicht mehr: Im Februar 2023 veröffentlichten Forscher:innen eine Studie, in der sie die globale Biomasse aller Säugetiere auf der Erde neu berechneten, so als hätten sie alle derzeit auf dem Planeten lebenden Individuen, die zu den Säugetieren zählen, auf eine riesige Waage gestellt. Das Ergebnis?
Etwas weniger als die Hälfte machen Menschen aus (390 Megatonnen, Mt). Etwas mehr als die Hälfte machen unsere Nutz- und Heimtiere aus (630 Mt). Nur zwei kleine Bruchteile stellen den Anteil wilder Säugetiere im Wasser (40 Mt) und an Land (20 Mt) dar. Allein alle zur Fleischproduktion gehaltenen Schweine bringen gemeinsam rund 40 Mt auf die Waage und haben damit etwa doppelt so viel Gewicht wie die Landsäugetiere aller Arten zusammen, vom Elefanten bis zur Fledermaus. Lassen Sie diese Relationen einmal auf sich wirken.
Denn Narrative haben enorme Wirkmacht. Erzählungen sind immer auch Ordnungssysteme, sie prägen unsere Vorstellungskraft. Sie machen Handlungen von Personen nachvollziehbar, betten sie in Zusammenhänge ein, beeinflussen unsere Wahrnehmung der Welt. Hier etwa: So viel Fokus liegt auf den hübschen Dokus um die Wildtiere, dass wir ganz übersehen, wie sehr wir die Welt mit unseren Aktivitäten schon geprägt haben.
Viel Fokus auf hübschen Dokus
Wir Menschen sind zu einem bestimmenden Einflussfaktor für den Planeten geworden. Davon „wissen“ wir grundsätzlich. Aber dieses Wissen zu begreifen, ist noch einmal schwieriger: weil es dazu die Einsicht braucht, dass wir selbst – unsere Generationen unseres Wohlstandes – es sind, die für die sich vorgehenden Veränderungen, für das Ruinieren verantwortlich sind. Das tatsächlich Schwierige und Unangenehme daran, den Klimawandel zu begreifen, ist, dass er uns zur Reflexion und zum Bewusstseinswandel zwingt. Er zwingt uns in die Verantwortung.
Unter dieser Verantwortung, die uns auch als Journalist:innen ständig begleitet, verstehe ich die selbst empfundene Pflicht, einem imaginierten oder realen Gegenüber auf dessen Fragen, Zweifel oder Protest Antworten schuldig zu sein und diese (bzw. den Versuch einer Antwort) für den Fall des Falles auch parat zu haben. Ich denke, es wäre eine entscheidende Aufgabe für Journalist:innen, diese Einsicht mitsamt der Verantwortung, die uns im globalen Norden deshalb zukommt, zu vermitteln. Und die Entscheidungsträger unserer Breiten regelmäßig daran zu erinnern. Doch in kaum einem Medium passiert das. Warum nicht?
In der Berichterstattung rund um Klimawandel und Erderhitzung gehören Geschichten recht häufig einem der beiden folgenden großen Narrativ-Blöcke an: Entweder erzählen sie von der Apokalypse, die Leser:innen mit dem Eindruck zurücklassen, es sei für Gegenmaßnahmen ohnehin zu spät. Oder aber sie erzählen von Einzelbeispielen, die uns das Gefühl geben mögen, alles sei nicht so schlimm, „alles wird gut“, im Branchenjargon auch „konstruktiver“ oder „lösungsorientierter“ Journalismus genannt. Dass diese beiden entgegengesetzten Erzählmuster so häufig auftreten, liegt daran, dass sie sich gut verkaufen.
Das lässt sich gut verkaufen
Das Storytelling in den Nachrichtenmedien hat sich in eine Richtung entwickelt, die der Philosoph und Autor Byung-Chul Han als „Storyselling“ bezeichnet. Narrative werden „produziert und konsumiert wie Waren“. Und so müssen sie aufgrund gesteigerter Konkurrenz auf vielen verschiedenen Kanälen entsprechend der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie mitspielen und sich eben auch verkaufen (lassen). Dazu werden zum Beispiel klassische Nachrichtenfaktoren (etwa: Neuigkeit, Nähe, Relevanz) mit erzählerischen Kniffen aus Hollywood verquickt, um mehr Spannung zu erzeugen.
Heraus kommen Geschichten, zu deren Themen das Publikum eine emotionale Nähe hat, Konflikt- oder Erfolgsgeschichten (Best-Practice-Beispiele) mit klaren Grenzen zwischen „den Guten“ und „den Bösen“, das Personalisieren von Problemstellungen, indem ein, eine Protagonist:in als Held, Heldin durch die Geschichte reist und einen Konflikt nach Möglichkeit im Happy End auflöst, oder auch Figuren, die etwas gegen alle Widerstände zum Besseren wenden, Davids, die Goliaths besiegen – schließlich wollen auch Medien ihre Kundinnen und Kunden mit einem guten Gefühl zurücklassen. Und es gilt ja auch als didaktisch sinnvoll, von Positivbeispielen im „Kampf gegen den Klimawandel“ zu berichten. Doch dieses Narrativ ist naiv. Ich unterstelle damit (übrigens immer wieder auch mir selbst), dass viele, die beruflich schreiben oder Geschichten erzählen, in ihrem täglichen Tun narrativnaiv vorgehen. Wir machen uns häufig keine großen Gedanken darüber, wie wir eine Geschichte dokumentarisch erzählen, wir greifen als Zugeständnis an Auftraggeber:in, Publikum und Zeitdruck auf etablierte Erzählmuster zurück – oder bedienen uns absichtlich des gefälligen „Alles wird gut“-Musters. Eigentlich führt uns dieses genauso wie die Apokalypse in eine Apathie: Entweder bleiben wir mit der Angst vor dem Weltuntergang zurück oder mit der vermeintlichen Gewissheit, dass schon noch ein Held kommen wird, um uns zu retten. Wir tun, als wäre unsere Geschichte auf diesem Planeten schon auserzählt.
Wie könnten wir die sich ständig wandelnde Gegenwart angemessener erzählen? Es ließe sich etwa nach Protagonist:innen Ausschau halten, die keine typische Heldenreise durchlaufen und dennoch zur Veränderung beitragen; es braucht auch nicht jede Geschichte ein Happy End. Es ließe sich partizipativ und multi-perspektivisch erzählen, mit Geschichten, die nicht Stereotype und Klischees bestätigen, sondern mit Erwartungen brechen. Und manchmal sehen wir vor lauter Versessenheit, zu Lösungen zu kommen, gar nicht, dass es die fehlende Beziehungsarbeit zwischen Konfliktparteien ist, die ein Problem ausmacht.
Nicht abschaffen
Der „konstruktive“ Journalismus soll nicht abgeschafft werden. Mit seiner Lösungsfixiertheit birgt er jedoch die Gefahr, Probleme zu vereinfachen und zu beschwichtigen. Er spart nur zu gern die beschriebene Einsicht aus, weil die unangenehm ist, weil sich die Geschichten damit im Sinne eines Storyselling schlechter verkaufen lassen.
Dabei müssen wir – als Erzähler wie als Leser – auch das Unangenehme, die Ambivalenzen, das Ungewisse aushalten. Es muss ja nicht gleich die Apokalypse sein. Stattdessen gilt es, auch die komplexen und verworrenen, die widersprüchlichen und unberechenbaren Geschichten des Lebendigen und des Sterbenden, des Schönen und des Hässlichen zu erzählen, wie sie aus Mündern und Mäulern, aus Taschen, Gruben und anderen Öffnungen dringen, wenngleich oft nicht sofort verständlich. Wir könnten ihnen Aufmerksamkeit schenken, in der Hoffnung, dass das ausreicht.
Vielleicht tut es das aber auch nicht.
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