„Es ist anstrengend, aber es lohnt sich“
Eine mexikanische Pflegekraft auf Station im Klinikum Saarbrücken.
Die Nachricht lässt angesichts des viel beklagten Fachkräftemangels aufhorchen: Vergangenes Jahr sind so viele Menschen aus dem Nicht-EU-Ausland wie nie zuvor in Deutschland einer befristeten Erwerbsarbeit nachgegangen. Das Statistische Bundesamt gab gestern bekannt, dass 419.000 Personen mit einem entsprechenden Aufenthaltstitel erfasst waren. Das bedeutet eine Steigerung um 68.000 Menschen oder 19 Prozent zum Vorjahr.
Für viele Branchen wie das Gesundheitswesen ist das eine positive Entwicklung. Denn sie können ihren Bedarf an Fachkräften nicht mehr aus dem heimschen Arbeitsmarkt decken. Wegen der demographischen Entwicklung gibt es immer weniger junge Menschen und somit auch weniger Arbeitskräfte. Zudem kämpft die Pflege mit einem Imageproblem. Die vergleichsweise niedrige Bezahlung bei hoher Arbeitsbelastung sowie Schichtarbeit macht Berufe wie Kranken- oder Altenpfleger unattraktiv. Schon aktuell fehlen laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft rund 17.000 Menschen in der Kranken- und weitere 18.000 in der Altenpflege. Verschiedene Modellrechnungen gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2030 angesichts einer alternden Gesellschaft 100.000 bis 200.000 mehr Kräfte gebraucht werden.
Die meisten Pflegekräfte werden aus Nicht-EU-Staaten angeworben
Diese Kräfte werden vor allem aus Nicht-EU-Ländern, so genannten Drittstaaten, gewonnen werden, sagt Marcel Schmutzler von der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Noch vor rund 15 Jahren, zur Zeit der Wirtschaftskrise, kamen die meisten ausländischen Pflegekräfte aus EU-Staaten wie Polen oder Rumänien. Seitdem es diesen Ländern wirtschaftlich besser geht, ist der Migrationswunsch dort nicht mehr so groß.
Dafür steigt der Anteil von Pflegekräften aus dem Nicht-EU-Ausland seit Jahren stark an. Laut Bundesagentur für Arbeit hatten 2023 von den 1,8 Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen 278.000 Menschen keinen deutschen Pass, rund 180.000 stammten aus Nicht-EU-Staaten. Diese Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als vervierfacht.
„Unser Fokus liegt bei der Anwerbung aus Drittstaaten“, so Schmutzler. Dort gibt es viele junge ausgebildete Kräfte, die im eigenen Land keine Perspektive haben. Dort gibt es häufig nicht genügend Arbeitsplätze und die Stellen sind so schlecht bezahlt, dass junge Leute nicht davon leben können.
Deutschland ist für Arbeitskräfte aus Drittstaaten attraktiv, die Bezahlung und Bedingungen sind für sie im Vergleich zum Heimatland sehr gut. Diese Arbeitskräfte zu gewinnen, ist aber nicht einfach. Zuerst müssen geeignete und willige Bewerber gefunden werden, die daraufhin einen oft langwierigen und komplizierten Anerkennungsprozess in Deutschland durchlaufen müssen.
„Triple Win“-Programm seit 2013
Darum startete die Bundesarbeitsagentur mit der ZAV verschiedene Initiativen zur Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Den Anfang bildete 2013 das Programm „Triple Win“, das die BA gemeinsam mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) umsetzt. Rekrutiert werden Fachkräfte und Auszubildende für die Kranken- und Altenpflege in Bosnien-Herzegowina, Indonesien, Jordanien, Indien, Philippinen, Tunesien und Vietnam. Seit 2018 werden auch Kräfte in Mexiko, Brasilien und Kolumbien angeworben.
Ergänzend hat die BA in den vergangenen Jahren Partnerschaftsabkommen mit verschiedenen Ländern geschlossen, die die Zuwanderung in Berufe mit hohem Fachkräftebedarf wie der Pflege erleichtern sollen. Seit 2013 hat die BA über diese Aktivitäten rund 9000 Fachkräfte und Auszubildende im Gesundheitswesen gewonnen, davon allein 3700 im vergangenen Jahr, erklärt Schmutzler. „Die Zahlen waren anfangs geringer und haben sich über die Jahre gesteigert.“
Neben der staatlichen Anwerbung sind zahlreiche private Personalvermittler auf dem Markt. Von den rund 19.000 Pflegefachkräften, die 2022 laut Statistischen Bundesamt ihre Berufsanerkennung in Deutschland erworben haben, wurden rund 80 Prozent von privaten Unternehmen rekrutiert. Einem geringen Anteil an Arbeitswilligen gelingt eine Anerkennung in Deutschland auf eigene Initiative.
Hunderte von privaten Vermittlungsagenturen in Deutschland
Auf dem deutschen Markt gibt es geschätzte 200 bis 300 Vermittlungsagenturen, von denen sich 60 dem staatlichen Gütesiegel „Faire Anwerbung Pflege Deutschland“ angeschlossen und sich damit internationalen Standards verpflichtet haben.
Eines dieser Personalvermittlungsunternehmen ist Talent Orange, das der Mediziner Tilman Frank 2012 in Frankfurt gründet hat. Seit seinem Bestehen hat der Dienstleister rund 2400 Fachkräfte nach Deutschland geholt. Derzeit sind es etwa 400 pro Jahr, anfangs waren es weniger, erklärt Geschäftsführer Frank. Das Unternehmen wirbt die Interessenten vor Ort an, wo sie vor der Ausreise erst einmal die deutsche Sprache lernen müssen, was sieben bis zehn Monate dauert. Erst nach bestandener B2-Prüfung in Deutsch können sie ein Anerkennungsverfahren in Deutschland antreten. B2 bedeutet bereits ein relativ hohes Sprachniveau. „Wir investieren viel Zeit und Energie in die Fachkräfte“, sagt Frank.
Während des Anerkennungsverfahrens übernimmt Talent Orange in Deutschland das weitere organisatorische Prozedere. Das Unternehmen sucht nicht nur den Arbeitgeber in Deutschland, sondern beschafft eine Wohnung, bietet weitere Sprachkurse an und erledigt alle bürokratischen Formalien. „Wir sind der Überzeugung, dass das der richtige Weg ist. Nur so können wir motivierte, leistungsbereite und gut ausgebildete Fachkräfte für den hiesigen Arbeitsmarkt gewinnen“, meint Frank. „Wir können die Leute nicht hierherholen und sie dann alleine lassen.“ Sowohl die Neubürger als auch die Arbeitgeber müssten die gegenseitigen kulturellen Eigenheiten kennen und verstehen lernen.
Das wichtigste für Neuankömmlinge: Deutsch lernen
Das größte Problem, vor dem die Neubürger in Deutschland stehen, sind die Sprache und die Bürokratie, erklären alle Beteiligten unisono. Sowohl staatliche als auch private Programme holen Bewerber zur Anerkennung erst dann nach Deutschland, wenn sie ein bestimmtes Sprachniveau erreicht haben. Hier vor Ort heißt es dann weiter Deutsch lernen, denn die ersten Kenntnisse reichen in der Regel nicht aus, um medizinische Fachbegriffe zu kennen oder komplexere Gespräche zu führen. Gleichzeitig arbeiten die Anwärter meist schon als Pflegehelfer bis sie als Fachkraft anerkannt werden. Entscheidend, wie wohl sich die Neuankömmlinge fühlen und wie schnell sie sich einleben, ist auch welche weiteren Integrationsmaßnahmen ihnen angeboten werden.
Die Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege, Isabell Halletz, moniert, dass die Anerkennungsverfahren in Deutschland im Schnitt viel zu lange dauerten. „Außerdem dauern sie auch noch je Bundesland unterschiedlich lange.“ Es gebe zwar seit 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das kürzlich aktualisiert wurde. Dieses gebe den Behörden die Möglichkeit, Verfahren zu entbürokratisieren, indem ausländische Abschlüsse erleichtert anerkannt und Verfahren digitalisiert werden. „Die Umsetzung gestaltet sich aber von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich“, kritisiert Halletz. Baden-Württemberg wolle zum Beispiel jeden Bewerber einzeln prüfen.
Anerkennungsbehörden haben selbst Fachkräftemangel
Ein positives Beispiel sei Bayern, das alle Prozesse digitalisiert und automatisiert habe, so die Geschäftsführerin. Hier dauere es jetzt nur noch vier bis sechs Wochen, bis eine vollständige Anerkennung umgesetzt sei. Vorher habe es 24 Monate gedauert. „Man fragt sich, warum die anderen das nicht auch hinkriegen.“ Als Antwort höre man ganz häufig, dass die Anerkennungsbehörden selbst zu wenig Personal hätten, erläutert Halletz. So dauere es im Schnitt derzeit zwölf bis 18 Monate bis Bewerber anerkannt würden, was viele Interessenten demotiviere.
Zugleich zeigt sich Halletz zufrieden mit den derzeitigen Möglichkeiten, ausländische Fachkräfte durch die staatliche Bundesarbeitsagentur und durch private Vermittler rekrutieren zu können. „Es gibt ein gutes Angebot für Unternehmen, die aus individuellen Paketen wählen können.“ Die Geschäftsführerin hält auch das Siegel für faire Vermittlung für sinnvoll. „Die Pflegebranche könnte damit wegweisend für andere Branchen wie den Gastrobereich werden.“
Gute Erfahrung mit der staatlichen Anwerbung hat das Klinikum Saarbrücken gemacht, berichtet Pflegedirektor Hagen Kern. Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung warb zusammen mit Politik und Bildungsträgern dafür, mexikanische Pflegefachkräfte zu akquirieren. Sein Haus ließ sich 2018 zusammen mit dem Uniklinikum Saarbrücken auf das Experiment ein. „Es war ein aktiver Schritt gegen den Fachkräftemangel. Wir können die benötigten Kräfte nicht mehr im eigenen Land gewinnen. Wir haben 300 Ausbildungsplätze im Haus, aber das reicht nicht“, so Kern.
Sehr gute Erfahrungen mit mexikanischen Pflegekräften
Seit 2018 sind insgesamt 80 Mexikanerinnen und Mexikaner in mehreren Phasen ins Saarland eingewandert und arbeiten in den beiden Krankenhäusern. Sie müssen ihre ersten Sprachkenntnisse vertiefen und gewisse fachliche Tätigkeiten lernen, sagt Kern. Zusätzlich wichtig sei, dass die Neuankömmlinge umfassend betreut werden, die Stadt, die Menschen, die Gepflogenheiten kennenlernen. Dafür gibt es eigens ein Team, das die Neu-Kollegen begleitet.
29 Mexikanerinnen arbeiten nun bereits als voll anerkannte Pflegekräfte in Saarbrücken, bei 43 Teilnehmerinnen finden im Herbst die Kenntnisprüfungen statt. Pflegedirektor Kern zeigt sich zufrieden: „Die Zusammenarbeit mit den mexikanischen Kolleginnen klappt sehr gut.“ Er kann sich vorstellen, die Kooperation mit der staatlichen ZAV weiter auszubauen und neue Länder wie Indien zur Anwerbung ins Visier zu nehmen. Sein Fazit lautet: „Es ist anstrengend, aber es lohnt sich.“