Er jagt die Heroen des Radsports: Tadej Pogacar gewinnt die zweite Giro-Etappe und ist neuer Leader
Strebt das historische Double aus Giro-Sieg und Triumph an der Tour de France an: der Slowene Tadej Pogacar. Jennifer Lorenzini / Reuters
Mittlerweile liebt Tadej Pogacar die gewaltigen Herausforderungen. Der Slowene will nicht einfach nur Rennen gewinnen. «Ich will als einer der Grossen in die Geschichte eingehen», sagte er.
Für die Geschichtsbücher ist denn auch Pogacars Auftritt am Giro gedacht: Der Debütant strebt nicht nur den Sieg an der Italienrundfahrt an. Danach will er auch die Tour de France gewinnen – und damit das prestigeträchtige Double schaffen.
Das ist in diesem Jahrhundert noch keinem Radprofi gelungen. Der letzte, der das schaffte , war Marco Pantani im Jahr 1998. Pogacar war damals noch nicht einmal geboren. Er kam erst knapp zwei Monate nach Pantanis Triumphfahrt in Frankreich im Dorf Klanec zur Welt, rund 20 Kilometer von Sloweniens Hauptstadt Ljubljana entfernt.
Der Radsport faszinierte ihn schon früh, vor allem der italienische. «Italien ist nicht weit von Slowenien entfernt. Mein Vater nahm mich als Kind öfter zu Etappen mit, die in der Nähe zur Grenze waren. Besonders gut erinnere ich mich an den Giro 2014, als in Triest unser Landsmann Luka Mecgez die Etappe gewann», sagte Pogacar kürzlich. Als Jugendlicher beteiligte er sich auch an Rennen in Italien. «Das Land hat mich als Radsportler geprägt. Ich liebe die italienische Kultur und das italienische Essen sowieso.»
Der UAE-Manager musste Pogacar bisher zurückhalten
Seltsam angesichts all dieser Liebesbezeugungen war, dass Pogacar bisher noch kein einziges Mal den Offerten der Giro-Organisatoren gefolgt war. «Es lag wirklich nicht an Tadej. Wenn es nach ihm ginge, hätte er schon längst den Giro, die Tour de France und die Vuelta in einem Jahr absolviert. Aber wir mussten ihn zurückhalten, zuerst dafür sorgen, dass sein Körper stark genug wird für derartige Herausforderungen», sagte beim Start in Turin Mauro Gianetti, der Manager von Pogacars Team UAE.
Für das Double-Vorhaben wurden Trainings- und Wettkampfpläne umgestellt. Sogar der Trainer wurde ausgetauscht. «Es ging darum, neue Impulse zu setzen. Wenn man Jahr für Jahr das Gleiche tut, wird man nicht besser. Dafür braucht es Stimuli, sowohl physische als auch mentale», sagte Gianetti.
Die wichtigste Veränderung war jedoch die enorme Reduktion der Renntage. Pogacar, der den Wettstreit liebt, liess sich vor dem Giro nur zehn Mal an einem Rennen blicken. An sechs dieser zehn Tage ging er als Sieger von der Strasse, gewann mit beeindruckenden Soloritten die Strade Bianche sowie Lüttich–Bastogne–Lüttich.
Die Katalonienrundfahrt dominierte er mit vier Etappensiegen und dem Gewinn aller Wertungstrikots. Nach den Rennen flog er dann aber ganz schnell wieder ins Höhentrainingslager, arbeitete dort an seiner Form. Als «beste Version meiner selbst» erlebt er sich nach dieser ungewöhnlichen Kombination aus wenigen Wettkampf- und vielen Trainingstagen.
Der Teammanager Gianetti beobachtete bei Pogacar in diesem Jahr vor allem «Verbesserungen in der Widerstandskraft allgemein und bei der Leistung nach sechs Stunden». Vor allem für die Bergetappen sollte Pogacar also gerüstet sein.
Der reduzierte Wettkampfkalender hatte zudem den vorteilhaften Nebeneffekt, dass er Stürzen aus dem Weg ging. Während seine drei mutmasslich härtesten Konkurrenten um die Tour-Gesamtwertung – Jonas Vingegaard, Primoz Roglic und Remco Evenepoel – sich bei der Baskenlandrundfahrt zum Teil schwere Verletzungen zuzogen, trainierte Pogacar störungsfrei. Der zweite Teil seines Double-Plans könnte für Pogacar also sogar weniger schwer werden als erwartet.
Dafür dürften die Herausforderungen beim ersten Teil des Plans umso grösser werden. Der Auftakt des Giro verlief selbst für die «beste Version seiner selbst» nicht ganz nach Plan. Auf der ersten Etappe verpasste er es, die Vorarbeit seines Teams zu vergolden: Im Sprint einer Dreiergruppe waren Jhonatan Narvaez und Maximilian Schachmann schneller. Schachmann hatte Pogacar zunächst mit einer Attacke 16 Kilometer vor dem Ziel überrascht. Narvaez liess sich bei der Aufholjagd Pogacars am letzten Berg nicht abschütteln. Dies könnte ein passendes Mittel sein, Pogacar zu fordern: selbst überraschende Attacken setzen, den Slowenen zum Reagieren zwingen und ihn dann unbarmherzig beschatten.
Pogacar interpretierte die Niederlage zum Auftakt als Herausforderung. Der Löwe war gereizt. Auch auf der zweiten Etappe am Sonntag liess er sein Team Tempo machen. Ein Defekt elf Kilometer vor dem Ziel warf ihn aber zurück. Pogacar rutschte sogar aus, fast wäre sein Teamauto mit ihm kollidiert. Doch mit einiger Zusatzanstrengung schaffte er es zurück nach vorne. Die Kollegen führten ihn just zu Beginn des Schlussanstiegs zurück ins Feld. Danach bestimmte das Team UAE erneut den Rhythmus. Rund viereinhalb Kilometer vor dem Ziel trat Pogacar an und distanzierte das Feld auf die gleiche Weise, wie er es bereits bei seinen grossen Siegen im Frühjahr getan hatte.
Auf den Spuren der Heroen des Radsports
Damit liegt Pogacar wieder auf Double-Kurs. Zahlreiche Experten sind überzeugt, dass der Slowene es schaffen kann. «Für Tadej ist das sicher möglich», sagte Alberto Contador. Der Spanier hatte es einst selbst zwei Mal versucht – und war zwei Mal gescheitert. «Wer, wenn nicht er», sagte Eddy Merckx. Der Belgier schaffte das Double sogar drei Mal, jeweils im Abstand von zwei Jahren (1970, 1972 und 1974). Und Stephen Roche sagte: «Pogacar kann sogar das Triple holen.» Der Ire hatte das 1987 selbst geschafft, mit Siegen am Giro, an der Tour de France und der WM – was einst auch Eddy Merckx gelang.
Die Heroen des Radsports legen die Latte also sehr hoch für Pogacar. Dessen Stimulus scheint vor allem zu sein, gegen jene mächtigen Schatten der Vergangenheit anzutreten.
Dabei sollte Pogacar freilich nicht vergessen, dass er im Kampf um einen herausragenden Platz in den Geschichtsbüchern zunächst einmal seine Zeitgenossen bezwingen muss. Die sind derzeit nicht bereit, sich mit Statistenrollen zufriedenzugeben. «Solange die Beine gut sind, kann man immer noch etwas erreichen», sagte etwa Geraint Thomas. Der Brite liegt nach dem Startwochenende im zweiten Gesamtrang und dürfte Pogacars härtester Konkurrent sein.
Einen Abstrich musste Pogacar bei seiner Jagd nach Rekorden am Wochenende bereits machen: Mit Gianni Bugno, der 1990 vom ersten bis zum letzten Tag das rosa Trikot trug, kann er es schon jetzt nicht mehr aufnehmen. Auch schier Übermächtigen gelingt nicht immer alles.