Migrationsforscher Düvell: „Die Türkei weint diesen Migranten keine Träne nach“

migrationsforscher düvell: „die türkei weint diesen migranten keine träne nach“

Berlin: Auf einem Balkon in der Nähe vom Kottbusser Tor hängt eine türkische Flagge, die sich im Fenster der Fassade gegenüber spiegelt.

Herr Düvell, die Asylbilanz für 2023 ist da. Deutschland hat im vergangenen Jahr mehr als 350.000 Asylanträge verzeichnet. Das ist der vierthöchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik.

Weltweit gibt es mittlerweile mehr als 110 Millionen Vertriebene, ein Rekord. Da ist es kein Wunder, dass auch hier die Zahlen steigen. Wobei der Anteil derer, die hier ankommen, sogar kleiner wird. Die meisten Vertriebenen bleiben im globalen Süden. Wir sind auch noch weit entfernt von der großen Krise in den Jahren 2015, 2016.

migrationsforscher düvell: „die türkei weint diesen migranten keine träne nach“

Franck Düvell ist Migrationsforscher am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück und Koordinator des Programms „Flucht- und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.

Aber es kommen ja noch die vielen ukrainischen Flüchtlinge hinzu, die kein Asyl beantragen müssen. Viele Kommunen sind überfordert.

Während der Pandemie sind große Fehler gemacht worden. Wenn eine Kommune eine Flüchtlingsunterkunft schließt oder ein Containerlager abbaut, lässt sich das nicht mal eben innerhalb eines Jahres wieder herrichten. Die Mietverträge sind aufgelöst, die Immobilien anderweitig vergeben.

Das andere ist die Finanzierung: Die Bundesregierung muss die Kommunen besser ausstatten. Denn eins ist klar: Auch in Zukunft werden viele Migranten kommen. Wir wollen doch nicht, dass die in Parks schlafen. Möglichst auch nicht in Schulen und Turnhallen. Berlin muss die Kommunen auch rechtzeitig vorwarnen.

Was meinen Sie damit?

Es nicht die Aufgabe der Kommunen, das Weltgeschehen zu beobachten. Solche Infos müssen vom Auswärtigen Amt und vom Innenministerium kommen.

Türken stellen jetzt die zweitgrößte Gruppe unter den Asylbewerbern in Deutschland. Bis vor wenigen Jahren wurden sie in der Statistik noch unter „Sonstige“ gefasst.

Was sich in dem Anstieg widerspiegelt, ist der jüngste Wahlerfolg von Präsident Erdoğan und seiner AKP. Vor allem die gebildete, bürgerliche Mitte aus den Städten hat die Hoffnung verloren, dass sich in der Türkei in absehbarer Zeit etwas ändert. Der Verlust der Hoffnung treibt viele Türken außer Landes.

Nur 13 Prozent von ihnen bekommen hier derzeit Asyl. Eine sehr niedrige Schutzquote.

Wir haben auch an unserer Universität seit anderthalb Jahren vermehrt türkische Kollegen, die ganz klar sagen, dass sie aus politischen Gründen gekommen sind. Da war zum Beispiel der Mann Journalist und kann nun nicht mehr arbeiten. Die politische Verfolgung geht in der Türkei auch mit wirtschaftlichem Druck einher. Manche bekommen keine Jobs mehr. Das lässt sich in einem Asylverfahren schwer nachweisen und ist vielleicht auch kein Asylgrund. Aber dennoch kommt mir die Schutzquote etwas unangemessen vor. Ich will nicht sagen, dass das alles Verfolge sind, aber . . .

Nachvollziehbare Gründe erkennen Sie schon?

Ich will es mal so ausdrücken: Der Verfolgungsdruck, der ja auch ein Existenzdruck ist, schlägt sich in diesen 13 Prozent nicht nieder. Wenn so viele Menschen meinen, das Land aus politischen Gründen verlassen zu müssen, dann stimmt da etwas mit dem Rechtsstaat nicht. Wer in Deutschland kein Asyl bekommt, wird also sicherlich nicht zurück in die Türkei wollen oder können.

Würde die Türkei die abgelehnten Asylbewerber überhaupt zurücknehmen? Erdoğan kann ja auch froh sein: ein paar Gegner weniger.

Die Türkei weint diesen Migranten keine Träne nach. Andererseits versucht die türkische Regierung immer wieder über Auslieferungsverfahren Mitglieder der Opposition, der kurdischen Partei oder der Gülen-Bewegung habhaft zu werden. Wie sich diese Einzelfälle statistisch verteilen, kann ich nicht sagen.

Die Krisen in der Welt nehmen zu. Auf welche Asylzahlen muss sich Deutschland in Zukunft einstellen?

Eher werden die Zahlen noch einmal steigen als fallen. Denken wir nur an Gaza, an die Sudanesen. An die Syrer, auf die in der Türkei Druck ausgeübt wird. Und denken wir an die Afghanen. Die Türkei schiebt Afghanen im großen Stil ab. Auch die machen sich auf den Weg nach Norden in die EU. Pakistan will 1,7 Millionen Afghanen abschieben, Iran hat 60.000 Afghanen abgeschoben. Einige werden nach Alternativen suchen. Vor allem die jungen Männer, weil die verantwortlich sind, für die Familie das Geld zu verdienen.

Zuletzt waren 71,5 Prozent der Antragsteller in Deutschland männlich, gut jeder zweite Antragsteller war zwischen 18 und 35 Jahre alt.

Neu ist das überhaupt nicht. Die gefahrvolle Reise wirkt als Filter. Überwiegend jüngere Männer nehmen den Weg auf sich, in der Hoffnung, dass sie dann im Zuge des Familiennachzugs Angehörige nachholen können. So eine Flucht ist ziemlich teuer, da sammelt die ganze Familie für, um jungen Männern, aber nicht Frauen, die Reise zu finanzieren.

Manche Politiker fordern, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern. Könnte das Modell nicht dazu führen, dass Frauen, Alte, Kranke mehr Chancen bekommen?

Die Idee, Asylverfahren auszulagern, halte ich für unausgegoren und undurchdacht, am Ende für unrealistisch. Sollen da jetzt deutsche und europäische Asylgesetze in, sagen wir, Tunesien angewandt werden? Sollen es deutsche oder europäische Beamte sein, die in Tunesien arbeiten? Wer soll die vielen Interviews durchführen, wo soll das Personal herkommen? Wollen wir die Gerichte in Tunesien mit Widerspruchsverfahren blockieren? Und was ist, wenn dann 100.000 Asylsuchende anerkannt werden: Wer nimmt die auf, wenn wir es schon innerhalb der EU nicht hinbekommen, Ankömmlinge in Spanien, Italien und Griechenland umzuverteilen? Was man stattdessen versuchen könnte, ist, die Bedingungen für Migranten in den Transitländern zu verbessern, damit sie nicht weiter nach Europa ziehen müssen.

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