Eine Hafeninsel, eine Uni für den Wiederaufbau, eine Verbindung zum Westjordanland – wie Gaza zum Singapur des Nahen Ostens werden könnte
Ein durch den Krieg schwer beschädigtes Wohngebäude ;in Rafah im südlichen Gazastreifen. Mohammed Salem / Reuters
Wenn der Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen einmal vorbei ist, wird es um den Wiederaufbau gehen. Wieder einmal, muss man sagen, allerdings ist das Trümmerfeld noch nie so gigantisch gewesen. Allein acht bis zehn Jahre dürfte es dauern, um all den Schutt zu entsorgen. Dies hat eine internationale Expertengruppe berechnet. Sie hat aber vor allem auch einen visionären Plan für Gaza für den Tag danach entworfen. Detailliert wird darin beschrieben, was möglich und machbar sein könnte. Da liessen sich dann zum Beispiel auch die Unmengen von Trümmern als Füllmaterial für den Bau einer künstlichen Hafeninsel vor Gaza nutzen.
«Palestine Emerging» heisst der Plan, bei dem der palästinensischen Wirtschaft eine «zentrale» Rolle zugeschrieben wird. Es handelt sich um eine Initiative der Palestinian Reconstruction and Economic Partnership, deren treibende Kraft Baron Frankal ist. Er leitet den Portland Trust in London, eine Stiftung, die 2003 gegründet wurde mit dem Ziel, zwischen Israeli und Palästinensern Frieden und Stabilität durch wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Dort hat man schon vor Jahren Blaupausen für eine ökonomische Förderung des Gazastreifens erarbeitet. Die Konzepte sind im Internet zu finden, blieben aber Theorie.
Auch Amerikaner gestalten mit
Das Massaker der palästinensischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober in Israel und der daraus folgende Krieg in Gaza haben das Thema nun gross auf die Tagesordnung gebracht. Mitte Dezember fand sich eine 25-köpfige Expertengruppe zu einem Workshop in London zusammen, wie Frankal im Videogespräch erzählt. «Wir wollten etwas tun. Die Leute fühlten sich hilflos, es gab keine Visionen. Wir wollten uns deshalb nur an die ökonomischen Parameter halten. So war es unendlich viel einfacher voranzukommen, als wenn man eine politische Lösung hätte finden müssen.»
Inzwischen ist die Gruppe auf hundert Mitglieder angewachsen, wobei nur die Hälfte mit Namen genannt werden wolle. Ein Drittel sind Palästinenser, vor allem aus dem Privatsektor, ein Drittel Vertreter internationaler Organisationen und ein Drittel globale Experten, die ihr Know-how aus anderen Krisenregionen mitbringen. Unter ihnen der Schweizer Urbanist Thomas Sevcik.
Es geht um kurz- und langfristige Planungen, um grosse und kleinere Projekte: die Urbanisierung von Gebieten, eine moderne Verkehrsinfrastruktur, einen Tiefseehafen, eine Wasser- und Energieversorgung, ein Gesundheits- und Bildungswesen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Gründung einer Technischen Universität für den Wiederaufbau. Es wäre die erste dieser Art. Als Bildungsmassnahme soll unter anderem eine Lern-App für Kinder zum Einsatz kommen, wie sie Norwegen 2015 in Syrien bei geflüchteten Schulkindern genutzt hat.
Frankal sagt, dass uns Krisenregionen vor allem eines lehren: «Nichts ist beständiger als ein Provisorium. Wenn heute an einem Ort ein Flüchtlingslager entsteht, ist die Chance sehr gross, dass daraus in dreissig Jahren ein Ballungszentrum gewachsen ist.» Das gelte es zu verhindern. Im März hat die Expertengruppe einen Bericht fertiggestellt. Danach gab es in Washington ein weiteres Treffen, an dem auch wichtige Akteure aus der amerikanischen Politik teilnahmen. Wer genau dabei war, wird unter Verschluss gehalten.
Frankal macht aber klar, dass solche Blaupausen kein Ersatz sein können für notwendige politische Prozesse. Ohne geklärte Rahmenbedingungen lasse sich der Plan nicht umsetzen. Man brauche eine Einigung zwischen Israel und den Palästinensern, deren Einhaltung dann von der internationalen Gemeinschaft garantiert werden müsse.
Ein detaillierter Plan für eine wirtschaftliche Zukunft könnte aber dabei helfen, dass die Konfliktparteien «besser in der Lage sind, sich vorzustellen, wie Lösungen für bestimmte Probleme» aussehen. Ökonomischer Aufschwung mag also kein Schlüssel sein, aber durchaus ein Wegbereiter.
Die Vision von Gaza als Zukunftsmodell ist nicht neu. 1993, Israeli und Palästinenser hatten sich gerade auf einen Friedenskurs geeinigt, lautete die Devise «Gaza first». Verwaltet wurde der Küstenstreifen fortan von der frisch gegründeten Autonomiebehörde. Entwickelt sich das Gebiet, so die Idee, wird das bis ins Westjordanland ausstrahlen und die moderaten Kräfte überall stärken.
2005 räumte Israel einseitig seine verbliebenen Siedlungen in Gaza. Der Abzug hätte eine Chance für echten Aufschwung sein können, sagten damals die Israeli, die den Plan unterstützen. Doch aus Gaza wurde kein «Singapur des Nahen Ostens». Stattdessen kam die islamistische Hamas an die Macht, die es vorzog, in Tunnel und Raketen zu investieren, um Israel zu bekämpfen.
Wie aber kann man garantieren, dass die zukünftigen Hilfsgelder, die man jetzt schon sichern möchte, in die richtigen Hände geraten? Diese Aufgabe soll an eine unabhängige Palestinian Agency of Reconstruction and Development gehen, die nur unter strenger internationaler Kontrolle agieren soll. Für sie stand eine andere Institution Pate: die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
Damals in den neunziger Jahren, sagt Frankal, wollten die Westeuropäer ja durchaus gern beim Aufbau Osteuropas mithelfen. Sie waren aber nicht bereit, das Geld an unerfahrene Leute zu übergeben. «Unser Plan ist hundertprozentig darauf ausgerichtet, sicherzustellen, dass Investitionen auf die richtige Art geschaffen und verwendet werden.» Der Wiederaufbau einer funktionierenden Infrastruktur «kann und soll dazu dienen, die Hamas zu schwächen», heisst es im Bericht.
Gaza und Westjordanland gehören zusammen
«Palestine Emerging» entwirft Zukunftsszenarien. Im Jahr 2050 werden demnach etwa 3,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza leben. Zusammen mit dem Westjordanland wären es 13 Millionen. Langfristiges Denken sei auch bei kurzfristigen Projekten wichtig, sagt Frankal. Denn dann wissen alle involvierten Behörden und Organisationen, worauf sie hinarbeiten sollen. «Wir versuchen ein Wirtschaftsmodell zu bauen, das auf verschiedenen Annahmen basiert.» Ein wichtiger Aspekt ist die Zusammengehörigkeit von Westjordanland und Gaza als einer Wirtschaftseinheit. Deshalb soll es einen Korridor durch Israel geben, der beide Gebiete miteinander verbindet.
Dieser Korridor gehört zu den zehn Schlüsselprojekten des Plans. Damit öffnet sich eine Perspektive für ein künftiges palästinensisches Staatswesen, auch wenn sich derzeit kein israelischer Politiker zu einem unabhängigen Palästina bekennt. Neu ist auch diese Idee nicht, sagt Frankal und verweist darauf, dass es 2008 bei den Friedensverhandlungen im amerikanischen Annapolis schon einmal eine Einigung zwischen Israeli und Palästinensern in dieser Frage gegeben habe.
Eine Ausschreibung soll jetzt Vorschläge einholen, wie dieser Korridor konkret aussehen könnte. «Soll es ein Tunnel sein oder eine Eisenbahn, vielleicht eine Autobahn auf Stelzen? Dabei muss natürlich die Sicherheitsfrage mitberücksichtigt werden», betont Frankal. Ein 3-D-Modell könne sehr hilfreich sein. «Wenn man weiss, wie so etwas aussieht, dann erscheint das Ganze nicht wie eine monströse Idee.»
An der Erarbeitung der Blaupausen waren keine Israeli beteiligt. Aber es gibt Kontakte zu ihnen. Deren Sicherheitsbedenken will man keinesfalls kleinreden. «Die ursprüngliche Idee war ja ein kohärenter Wirtschaftsplan von Palästinensern und der internationalen Gemeinschaft.»
Für Frankal und seine Mitstreiter kann es keinen Frieden und keine Sicherheit für Israel geben ohne eine Lösung des Konflikts. Das sehen sie ganz pragmatisch. Die Zukunft Israels wird geprägt sein von dem ersten Tag nach dem Gazakrieg und den Perspektiven für die Palästinenser. Generell setzt der Plan auf mehr Trennung und weniger Abhängigkeit von Israel. Auch die Währung soll in Zukunft nicht mehr der israelische Schekel sein. Für viele klingt das in Zeiten, in denen nach wie vor Raketen fliegen, wie Science-Fiction.
Wirtschaftswachstum in Gaza sollte allerdings im Interesse aller Parteien liegen. Denn es gebe eine starke Korrelation zwischen Wohlstand und der Bereitschaft zu Gewalt, sagt Frankal. Gaza befand sich vor dem 7. Oktober mit einem Bruttoinlandprodukt von rund 1200 Dollar pro Kopf auf dem gleichen Niveau wie afrikanische Staaten südlich der Sahara. Seine These: Je mehr die Menschen etwas zu verlieren haben, desto weniger sind sie für Kämpfe zu haben.
Etwas gibt Frankal Grund für Optimismus: «Es gibt sehr viele Israeli und Palästinenser, die absolut davon überzeugt sind, dass eine Koexistenz, die auch eine Trennung bedeuten kann, die ultimative Lösung ist. So sehen das alle Menschen, mit denen ich zu tun habe. Nur eine Minderheit ist in beiden Fällen anderer Meinung.» Für Frankal haben die Ereignisse vom 7. Oktober und der andauernde Krieg den alten Status quo zerstört. Daraus müsse jetzt unbedingt etwas anderes entstehen.