Eine Dokumentation behandelt das Leben Beckenbauers wie einen Wikipedia-Eintrag
Noch unbeschwert: Franz Beckenbauer im Trainingslager in Balneario de Comanjilla bei der WM 1970 in Mexiko.
Die 31 Tage vom 9. Juni bis zum 9. Juli 2006 waren vielleicht die unbeschwertesten Wochen in der deutschen Geschichte. Ermöglicht hat sie Franz Beckenbauer. Als Chef des Organisationskomitees der Heim-WM hat er dem Land ein rauschendes Fest ohne Kater beschert. Die Nation, die endlich von der Welt geliebt werden wollte, war für einmal mit sich selbst im Reinen. Und der Mann, der schon als Spieler und als Trainer Fußball-Weltmeister geworden war, war jetzt auch noch der Weltoffenheitsmeistermacher.
Das ist mittlerweile siebzehneinhalb Jahre her. Deutschland und sein Selbstbild haben sich seitdem nicht zum Positiven entwickelt. Und auch dem Regisseur des Sommermärchens geht es schlecht; rufschädigende Enthüllungen, private Schicksalsschläge und schwere Erkrankungen haben ihm zugesetzt. Auftritte in der Öffentlichkeit meidet der Achtundsiebzigjährige, ein Bild von einem Treffen mit dem 1990er-Endspielsiegtorschützen Andreas Brehme vom Dezember 2022 in Salzburg scheint das aktuellste zu sein, das veröffentlicht wurde – es zeigt einen offenbar gebrechlichen Mann.
Für ein Gespräch mit den Machern einer ARD-Dokumentation, die sich seinem Leben widmet, ohne dafür einen Anlass wie einen runden Geburtstag abzuwarten, stand er jedenfalls nicht zur Verfügung. Philipp Grüll und Christoph Nahr mussten für ihr Porträt vor allem auf mehr oder wenige historische Originalaufnahmen und Interviews mit Zeitzeugen zurückgreifen. Angesichts des Umstandes, dass es Beckenbauer schon immer verstanden hat, sich in Interviews nicht zu offenbaren, sondern sich hinter eine Mischung aus Naivität und Arroganz zu verstecken, muss das kein Schaden sein; es kann sogar seinen Reiz haben, einen Nachruf zu Lebzeiten so zu bauen, dass das Bild des Protagonisten indirekt entsteht.
Ein Fußballhistoriker wäre die bessere Wahl gewesen
Dann allerdings kommt es ganz auf die Auswahl der Gesprächspartner an. Hier haben Grüll und Nahr zu sehr auf den Faktor Prominenz gesetzt. Viel Raum geben sie ehemaligen Bundesministern wie Otto Schily und Joschka Fischer – Männer von unerschütterlicher Selbstgewissheit, die Allgemeinplätze zur Entwicklung des Fußballs generell und zur Wirkung und Bedeutung des elegant-souveränen Spielers Beckenbauers im Besonderen verbreiten dürfen, als handele es sich um Gedanken von Erleuchteten. Ein Fußballhistoriker wäre die bessere Wahl gewesen.
Auch die Weggefährten Paul Breitner und Lothar Matthäus, gewohnt gespreizt formulierend der eine, schnoddrig der andere, haben wenig Erhellendes beizutragen; ihr Beckenbauer-Bild hat, vermutlich durch viele Wiederholungen, etwas Gusseisernes bekommen. Das passt zu einem konventionell komponierten Film, der streng chronologisch und in ausgewogener Proportionierung die Stationen im Leben des 1945 Geborenen abschreitet: die Herkunft aus dem kriegszerstörten München-Giesing, der Aufstieg als Anführer des FC Bayern und der Nationalmannschaft zu Weltruhm, die späten Spielerjahre bei Cosmos New York und beim HSV, die Ära als Teamchef, die Führungsrolle beim FC Bayern, das Sommermärchen und die Jahre als weltreisender Funktionär von DFB, UEFA und FIFA. Es fehlt diesem verfilmten Wikipedia-Eintrag an nichts, nur am Wichtigsten: einer Idee, was dieses Leben im Innersten zusammenhält, aus der wiederum eine Dramaturgie hätte entstehen können.
Dass der Film in der Länge eines Fußballspiels dennoch sehenswert ist, liegt vor allem an vier Gesprächspartnern, die von sich behaupten dürfen, Beckenbauer nahezustehen und hinter seine Fassade freundlicher Unnahbarkeit schauen zu können. Günter Netzer zum Beispiel, in dessen freundschaftlichem Verhältnis zu Beckenbauer sich Bewunderung für dessen Stärken und ironischer Blick auf die Schwächen auf das Stimmigste mischen. Wie Netzer in der Schwebe lässt, wie schmerzhaft die Verletzung im Halbfinale der WM von 1970 wirklich war, als Beckenbauer mit bandagiertem Arm weiterspielte und sich dabei der ungeheuren Wirkung der Bilder wohl doch sehr bewusst war, ist meisterhaft.
Und dann sind da Beckenbauers langjährige Partnerin Diana Sandmann und die zweite Ehefrau Sybille Weimar – reflektierte Frauen, die ohne Groll, klug und mit diskreter Offenheit von der gemeinsamen Zeit berichten. Sie stehen in einer Reihe mit der ersten Ehefrau Brigitte, die vor einigen Jahren starb, kurz nach dem gemeinsamen Sohn Stephan. Sie war es, die ihren Mann dazu bewegte, schon in jungen Jahren über den Fußball hinauszuschauen. Mögen die Besuche bei den Bayreuther Festspielen keinem inneren Bedürfnis entsprungen sein, wie Netzer mutmaßt, trugen sie zur gesellschaftlichen Parkettsicherheit bei, die Beckenbauer auf seinen späteren beruflichen Stationen nützlich sein sollte.
Dass er sich starke Frauen gesucht hat, spricht für Beckenbauer, und noch mehr, wie sie nach den schmerzhaften Trennungen über ihn sprechen. Überhaupt muss er einen ausgeprägten Familiensinn haben. Die Erzählungen seines älteren Bruders sind vielleicht die schönsten des Films. Walter macht aus der Verletzung kein Hehl, die Franz ihm zufügte, als er in den Jahren seines größten Ruhms unnahbar war für ihn; und noch weniger aus der Freude, als er ihn in seiner New Yorker Zeit wieder an sich heranließ. Walter ist ein Bruder, wie man ihn jeder Berühmtheit wünscht: zugewandt ohne Neid, aber ohne blinde Bewunderung; empathisch, dabei selbstbewusst den eigenen unspektakulären Lebensweg gehend.
Beckenbauer hat also offenbar ein Gespür für Leute, die ihm guttun. Ob sich das auch im Fall von Marcus Höfl sagen lässt, ist von außen nicht zu entscheiden. Der stets lächelnde Höfl ist seit 2003 Manager Beckenbauers und besitzt laut eigener Homepage sogar die globalen Namensrechte seines Klienten. Dessen atemberaubenden Absturz, der mit nie ganz geklärten Korruptionsvorwürfen im Rahmen der deutschen Bewerbung um die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft von 2006 begann, hat er aus nächster Nähe verfolgt.
Unstimmigkeiten bei der Vergabe der Weltmeisterschaften
Der Erfolg der Bewerbung, darauf weist Joschka Fischer zu Recht hin, wäre nicht möglich gewesen, wenn der DFB nicht nach den schmutzigen Regeln des verkommenen Systems FIFA gespielt hätte. Empörung darüber ist scheinheilig. Doch was anschließend über Beckenbauer bekannt wurde, lässt sich nicht mehr mit dem Hinweis relativieren, er habe nicht aus Eigennutz gehandelt: das Bekanntwerden von Millionenzahlungen des Sportwettenabieters Oddset, mit denen das sorgfältig gepflegte Bild vom ehrenamtlich tätigen WM-Organisator zerstört wurde, Unstimmigkeiten in Beckenbauers Rolle bei der Vergabe der Weltmeisterschaften 2018 und 2022 und zynische Äußerungen über die Situation der Arbeiter in Qatar zerstörten sein Renommee.
Es ist bemerkenswert, wie es Höfl schafft, Beckenbauer und damit sich selbst als Opfer der Strukturen darzustellen. Mit kritischen Nachfragen über die eigene Rolle scheinen Grüll und Nahr den überaus selbstgewissen Höfl verschont zu haben, jedenfalls ist für den Zuschauer nichts davon zu erkennen. Wo sie den Zugriff auf den Kern der Geschichte hätten finden können, handeln die beiden Filmemacher nur eine weitere Station im Leben des Franz Beckenbauer ab.
Dabei liegt auf der Hand, dass es am Ende das Streben eines wohlhabenden und wichtigen Mannes nach noch mehr Geld und Einfluss war, das ihn hat stürzen lassen. Daran könnte man Fragen knüpfen: War es schlichte Gier? Oder handelte Beckenbauer aus dem Gefühl heraus, ihm stehe ein Anteil am Milliardengeschäft Fußball zu, in dem mittelmäßige Verteidiger und schmierige Spielervermittler mehr verdienten als er? War es am Ende für die Infantinos der Fußballwelt ganz leicht, den Mann, der schlecht Nein sagen kann, zu manipulieren? Grüll und Nahr stellen die Fragen nicht.
Bessere Filmemacher hätten dieses Leben als Tragödie erzählt. Zu ihr gehört, dass der einstige Götterliebling gewarnt worden ist. Beckenbauer, der in dieser Hinsicht empfänglich ist, las auf einem Flug ein Langzeit-Horoskop, das ihm ein schreckliches Jahrzehnt prophezeite. Dieses Schicksal hat sich erfüllt. Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann haben sich über den Fall dieses Helden weniger Deutsche gefreut als sonst in solchen Fällen üblich.
Beckenbauer läuft am 8. Januar um 20.15 Uhr im Ersten. Seit dem 2. Januar ist die Dokumentation in der ARD-Mediathek verfügbar.