Eine Betrachtung zur jüngsten Lieferung des Goethe-Wörterbuchs
Die Früchte dieser Verbindung zwischen Leda und ihrem göttlichen Besucher wird man mit Recht „schwanerzeugt“ nennen.
Dass die Arbeit an dem 1946 von dem Gräzisten Wolfgang Schadewaldt begründeten Goethe-Wörterbuch noch nicht abgeschlossen ist, mag die Geldgeber in Unruhe versetzen – für alle anderen aber ist es ein Grund zur Freude. Denn das heißt auch, dass immer noch regelmäßig „Lieferungen“ mit den neuesten Wortartikeln veröffentlicht werden, und diese Lieferungen sind ein besonderer Glücksfall, da sie einen frischen, unbefangenen Blick auf eine begrenzte Anzahl von Lemmata ermöglichen. Wenn das Goethe-Wörterbuch eines Tages – und dieser Tag ist nicht mehr fern – in voraussichtlich zehn großformatigen Bänden in den Bibliotheksregalen stehen und vermutlich bereits durch seinen Umfang manche Nutzer abschrecken wird, wird diese Möglichkeit so nicht mehr bestehen, und auch die Online-Version bietet dafür keinen Ersatz.
Aber so weit ist es noch nicht. Soeben ist die 11. Lieferung zum Siebten Band erschienen: Sie enthält die Artikel zu den Lemmata von „schwachblau“ bis „Sehne“ – und ist ein Fest. Ein Fest nicht nur für Philologen und Lexikographinnen, sondern für alle an der deutschen Sprache, ja an Sprache überhaupt Interessierten, ganz besonders aber für Goethe-Leser.
Schwuppen auf den elysäischen Feldern
Wo beginnen? Vielleicht bei einigen eher robusten Wörtern wie „schwummeln“, „schwuppen“ und „schwippen“. Wer allerdings meint, hier ohne Erläuterungen auszukommen, irrt: „Schwummeln“ etwa, vielleicht Frankfurterischen Ursprungs, verwendet Goethe in einem in Leipzig geschriebenen Brief an Herzog Carl August und meint damit wohl, dass die „Zuckenden, krinsenden, schnäbelnden und schwumelenden Mägdlein“ dort häufig in Ohnmacht fallen. „Schwuppen“ dagegen, eindeutig aus dem Frankfurter Dialekt stammend, bedeutet „geschubst“, „ausgestoßen“ zu werden – und so kann man selbst in die elysäischen Felder „geschwubbt“ werden, wie es in dem Drama „Triumph der Empfindsamkeit“ heißt. „Schwippen“ wiederum bezeichnet die schaukelnde Bewegung eines Schiffes und die dabei hervorgerufenen Geräusche, wie Goethe sie beispielsweise mit der wunderbar lautmalerischen Zwillingsformel „schwankend und schwippend“ in der „Italienischen Reise“ evoziert. Auf einem solchen Schiff mag auch das vielversprechende „Seebier“ transportiert worden sein, als das Goethe ein über das Meer verschifftes Exportbier (offenbar ein englisches Ale) bezeichnet hat.
Auch sonst sind ihm derart handfeste Wörter und Wendungen keineswegs fremd, nicht einmal dann, wenn es um das Dichten geht. So hat er im Gespräch mit seinem Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer – in kühner Metaphorik, aber überaus anschaulich – Dichter mit Wurstmachern verglichen: „Es wird bald Poesie ohne Poesie geben .. eine gemachte Poesie. Die Dichter .. kommen mir dann vor, wie eine Art Wurstmacher, die in den sechsfüßigen Darm des Hexameters oder Trimeters ihre Wort- und Silbenfülle stopfen.“ Für Un-Dichter dieser und anderer Art hatte er spezielle Wörter parat: „Scribenten“ zum Beispiel und – schlimmer noch – „Scribler“. Der aus dem Lateinischen übernommene „Scriptor“ hingegen war bei ihm ganz für Autoren der Vergangenheit reserviert. Eine abwertende Bezeichnung für seine eigenen Schreibereien ist „Scribalien“ – und dieses schöne, ganz und gar unverbrauchte Wort hätte eine weitere Verbreitung unbedingt verdient.
Ledas schwanerzeugte Kinder
In ein anderes, gediegeneres Register gehört „schwanerzeugt“: Dieses Wort findet sich in „Faust II“ und ist dort auf Helena gemünzt, die dem griechischen Mythos nach aus der Verbindung von Leda und dem als Schwan in Erscheinung getretenen Zeus hervorgegangen ist. Insofern kann sie von dem Chor der gefangenen Trojanerinnen als „uns’re Schwanerzeugte“ angesungen werden. Abgesehen von dem Wohlklang dieses Wortes, der vor allem durch seine prägnante rhythmische Gestalt hervorgerufen wird, die es außerdem für die Verwendung im Vers prädestiniert, ist das Besondere an ihm, dass es wirkt wie die Übersetzung eines homerischen Epithetons. In Wahrheit ist es aber eine Wortbildung Goethes, vielleicht sogar eine Neuschöpfung von ihm, die beweist, dass er, wenn er nur wollte, dichten konnte wie Homer.
Den Höhepunkt der Lieferung bildet aber der nicht weniger als elf Spalten in Anspruch nehmende Artikel zu dem Verb „sehen“, einem der Grundworte des Augenmenschen Goethe. Mehr als 11.000 Archivbelege wurden für diesen Artikel ausgewertet, in einem lexikographischen Kraftakt, der größten Respekt verdient. Und auch wenn die Bearbeiter einräumen, der semantische Differenzierungsgrad lasse sich in diesem Fall kaum vollständig abbilden, sind sie doch sehr weit gekommen: Ihre Einteilung des Wortgebrauchs in neun Bereiche reicht von der „organischen“ Verwendung im Sinn von „sehen können“ über die Bezeichnung intuitiver, imaginärer und visionärer Wahrnehmungsvorgänge bis hin zu „usuell abgeblaßten“ Wendungen wie „sieh da“. Der ganze Goethe ließe sich aus diesem Artikel rekonstruieren. Reich belohnt wird man aber auch schon bei kursorischer Lektüre.