Ein Leben ohne Schmerz: Was verlockend klingt, ist lebensgefährlich
Schmerzhafter Kontaktsport: Die australische Football-Spielerin ;Tayla Harris geht 2019 bei einem Spiel in Melbourne zu Boden. Michael Dodge / Getty
Bei einer Internetrecherche stiess ich auf ein seltenes Phänomen: Es gibt Menschen, die keine Schmerzen empfinden. Wenn sie sich in den Finger schneiden, eine Schulter auskugeln oder ein Kind gebären, bleibt der Schmerz aus. In einem Artikel erzählt eine betroffene Frau: Bei der Geburt ihrer Kinder habe sie ein Drücken gespürt, nicht unangenehm, sondern ähnlich, wie wenn sie zu viel gegessen habe.
Das Schmerzgefühl entsteht im Gehirn. Sobald eine Verletzung oder Entzündung auftritt, werden Botenstoffe freigesetzt, die spezialisierte Schmerz-Nervenzellen aktivieren. Diese überbringen das Signal an Nervenzellen im Rückenmark, die es ans Gehirn weiterleiten. Erst durch die Verarbeitung in der obersten Zentrale wird der Schmerz wahrnehmbar.
Verschiedene genetische Veränderungen verunmöglichen diesen Prozess. Kommt das Schmerzsignal nicht im Gehirn an, bleibt das schreckliche Gefühl aus. Laut Schätzungen sind nur ein paar hundert Menschen weltweit von solchen Veränderungen betroffen. Sie kennen im wahrsten Sinne des Wortes keinen Schmerz. Sie können Druck und Temperaturunterschiede wahrnehmen, doch löst das bei ihnen keine Schmerzen aus, auch wenn die Haut dabei verbrüht. Sie kennen weder Kopfschmerzen noch Magenkrämpfe und eben auch keine Gebärschmerzen.
Was beneidenswert klingt, ist für die meisten Betroffenen ein Fluch. Mit den ersten Zähnen zerbeissen sich Kleinkinder die Lippen und die Zunge, weil es nicht schmerzt. Beim Laufenlernen, Springen oder Hüpfen erleiden sie Knochenbrüche, ohne es zu merken. Ein Junge in Schweden trug so viele Verletzungen davon, dass er schon im Alter von neun Jahren am Rollator ging, weil sein Körper von all den Verletzungen krumm geworden war. Seine Eltern hielten ihn für minderintelligent, weil er so ungeschickt war.
Aber die Schmerzlosigkeit war schuld an der fehlenden Umsicht. Sie führt dazu, dass die Betroffenen nicht lernen, ihre Muskeln und Gelenke richtig einzusetzen. Anstatt nach einem Sprung bei der Landung abzufedern oder sich bei einem Sturz aufzufangen, lassen sie sich auf den Boden plumpsen. Es fehlen die Reflexe, den Körper zu schützen, weil die schmerzhaften Konsequenzen ausbleiben.
Wir anderen kennen Schmerzen nur zu gut. Mit Schmerzmitteln kann man eine gewisse Unempfindlichkeit erreichen. Das ist eine grossartige Erfindung der Menschheit. Aber manchmal ist es kontraproduktiv, wie ich kürzlich feststellte: Seit mehreren Wochen schmerzt mein Ellbogen aufgrund einer Muskelentzündung. Anfangs nahm ich Schmerzmittel und schonte mich kaum. Dadurch wurde es immer schlimmer. Schliesslich setzte ich die Medikamente ab, um besser zu spüren, welche Bewegungen den Muskel besonders strapazierten. Jetzt warte ich auf Besserung.
Schmerzlose Menschen müssen durch Vernunft lernen, vorsichtig mit ihrem Körper umzugehen. Für Kinder und Jugendliche ist das besonders schwierig. Sie lassen sich gern auf Mutproben ein. Das kann fatale Folgen haben – denn ohne Schmerzen fehlt die Vorsicht. Viele junge Männer sitzen im Rollstuhl oder sterben in jungen Jahren an ihren Verletzungen. So wie ein Teenager in Pakistan, der von einem Hausdach sprang, um seine Freunde zu beeindrucken. Er verblutete innerlich, weil er nicht merkte, dass er sich beim Aufprall verletzt hatte. Das zeigt: Schmerz ist zwar sehr unangenehm, aber lebensrettend.
In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.