Die Stärke der russischen Luftfahrt offenbart die Schwäche der Sanktionen
Der zivile Flugverkehr in Russland legt zu, obwohl aus der EU keine Ersatzteile mehr geliefert werden dürfen. Viele Unternehmen können oder wollen ihre Waren dem Kreml nicht vorenthalten. Politiker fordern nun eine härtere Gangart gegen die Sanktionsbrecher – und gegen China.
Stewardessen vor einer Maschine der russischen Airline Aeroflot MAXIM SHEMETOV/REUTERS
Zentrale Sanktionen des Westens gegen Russland verfehlen ihre Wirkung. So funktioniert der zivile Luftverkehr im Land weiterhin. Nach WELT-AM-SONNTAG-Recherchen kann Russland Flugzeuge westlicher Bauart nach wie vor warten und betreiben, obwohl Europa und die USA die Lieferung von Ersatzteilen verboten haben.
Zwar blieben im ersten Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine viele Maschinen am Boden. Doch 2023 gab es in Russland wieder mehr Starts und Landungen: Die Zahl der Flüge stieg binnen Jahresfrist um rund 20.000 auf 1,28 Millionen.
Politiker fordern nun ein härteres Vorgehen gegen Sanktionsbrecher, von denen Russland offenbar profitiert. „Es gibt leider auch in Deutschland noch zu viele Firmen, die Embargos aushöhlen“, sagte FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann der WELT AM SONNTAG. „Das ist inakzeptabel.“ Wer indirekt Russland unterstütze, mache sich mitschuldig an den Verbrechen in der Ukraine und gefährde die Sicherheit Deutschlands und Europas: „Deutschland muss hier mit aller Härte durchgreifen.“
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Seit Beginn des Krieges hat Brüssel Sanktionen gegen mehr als 400 russische Unternehmen und 1700 Personen mit Verbindungen zum Kreml verhängt. Daten der EU-Kommission zufolge decken die Maßnahmen 58 Prozent der russischen Exporte nach Europa und 61 Prozent der Importe ab. Güter aus nahezu allen Bereichen der Wirtschaft sind betroffen: Öl und Kohle, Computerchips und Baumaschinen, Uhren und Kaviar. Und Komponenten für Russlands Flotte aus rund 1000 Passagierflugzeugen.
„Putins wirtschaftliche Aktivitäten dienen der Verlängerung des brutalen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und gefährden auch unsere europäische Sicherheit“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) dieser Zeitung. „Genau das müssen wir unterbinden.“
Deshalb setze sich Deutschland in Brüssel für die Ausweitung der Strafmaßnahmen in Bereichen wie Energie, Rohstoffen und Technologien ein. „All diese Sanktionen können aber nicht vollständig wirken, wenn Länder wie China weiter kriegswichtiges Material wie Dual-Use-Güter nach Russland liefern“, kritisierte Baerbock.
Russland gelingt es immer wieder, westliche Sanktionen zu umgehen. Etwa beim Export von Öl und Diesel und beim Import von Dual-Use-Gütern – also von Produkten, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, wie Halbleiter, Drohnen und eben Flugzeugteile. Nach einer Untersuchung des Ifo-Instituts gelangen viele davon über Armenien, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan und die Türkei nach Russland.
Wohl nicht alle europäischen Unternehmen können – oder wollen – ihre Waren dem russischen Markt vorenthalten. „Der Sieg der Ukraine ist im ureigensten Interesse der EU“, sagte Manfred Weber, Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion im EU-Parlament, dieser Zeitung. „Wer die Sanktionen unterläuft, spielt Putin in die Hände und schadet der EU empfindlich.“
Der Bruch von Embargos sei kein Kavaliersdelikt. „Es darf nicht sein, dass Drohnen, die auf die Ukraine abgefeuert werden, europäische Technologie enthalten“, so Weber. „Egal ob europäische Firmen oder EU-Beitrittskandidaten, alle müssen bei den Sanktionen an einem Strang ziehen.“
Das Embargo gegen Russlands zivile Luftfahrt zählte zu den ersten Maßnahmen der EU nach Kriegsbeginn. Es sollte den Staat an einer empfindlichen Stelle treffen.
Viele wichtige Regionen können nur per Flugzeug erreicht werden. Und die russischen Airlines nutzen fast ausschließlich Modelle des europäischen Herstellers Airbus und seines amerikanischen Konkurrenten Boeing. Einmal abgeschnitten von westlicher Luftfahrttechnologie, so die Hoffnung, wäre Russland entscheidend geschwächt. Dieser Plan ist gescheitert.
„Russland nutzt zunehmend Schlupflöcher, um die Sanktionen zu umgehen“, sagte SPD-Außenpolitiker Michael Roth. Zugleich erschließe sich der Staat neue Märkte. So hätten China und Indien die EU-Mitglieder als wichtigste Abnehmer russischer Energieexporte abgelöst. Dennoch hält Roth Brüssels Maßnahmen für effektiv. „Die 13 Sanktionspakete der EU seit Februar 2022 wirken sehr wohl“, sagte er. „Wenn auch nicht so schnell und umfassend wie gewünscht.“