Die Stadt, die keine Juden mehr hat
In Schweden ist man sich nicht mehr sicher, ob Malmö der ideale Ort ist, um den Eurovision Song Contest auszutragen. Der Ausnahmezustand – was Donald Trump damit zu tun hat.
Bandenkriminalität und Judenhass treffen auf eine heile ESC-Welt: Malmö wappnet sich gegen drohendes Ungemach.
Wenn man die kruden Fakten so dahinschreibt, klingt das Ganze eigentlich recht lustig: Der ESC 2024 wird wahrscheinlich von Baby Lasagna gewonnen, kraft des Lieds «Rim Tim Tagi Dim». Nemo hat laut Wettquoten immer noch Siegeschancen, ebenso der einst hoch gehandelte Holländer Joost Klein mit seinem frohsinnigen Beitrag «Europapa».
So viel zum sportlichen Teil der Veranstaltung. Denn in der Austragungsstadt Malmö wird gerade weniger über die Siegeschancen kroatischer Ulkbands diskutiert als um die Risiken und Nebenwirkungen des ganzen Gesangswettbewerbs auf Malmöer Boden. Eine Befragung hat ergeben, dass drei von vier Einwohnerinnen und Einwohnern Malmös dermassen besorgt über die Sicherheitslage in ihrer Stadt sind, dass sie Orte meiden, die sie normalerweise besuchen.
«Rim Tim Tagi Dim»: Die kroatischen ESC-Siegesanwärter Baby Lasanga bei den Proben.
Andere kehrten der Stadt gleich ganz den Rücken und bieten ihre Wohnungen auf Airbnb an. Einzimmerwohnungen werden bereits für mehr als 750 Franken pro Nacht angeboten. Und von den 550 Freiwilligen, die im Einsatz stehen sollten, haben über 80 wieder abgesagt. Begründung: Sorgen wegen israelisch-palästinensischer Konflikte.
Geheimdienst gibt Ratschläge
In diesen Tagen mutet Malmö an wie eine Stadt im Ausnahmezustand. Wie viele Polizeikräfte am Samstag im Einsatz stehen, ist geheim, es dürften Tausende sein, schwer bewaffnet oder in Zivil, rekrutiert aus Schweden und den umliegenden Ländern. Teile des Luftraums über Malmö sind bereits gesperrt, die Polizei hat diverse Überwachungskameras installiert, setzt Drohnen ein und verhindert das Eindringen feindlicher Flugkörper mit einem ausgeklügelten Abwehrsystem. Sicherheitszäune wurden hochgezogen, und selbst in den Hotels sind scharfe Kontrollen eingerichtet. Der ESC 2024 wird bereits als das heikelste Ereignis in der Geschichte des Anlasses bezeichnet.
Und warum die ganze Aufregung? Weil die Veranstalter keinen Anlass sahen, den israelischen Gesangsbeitrag aus dem Starterfeld zu nehmen. Er wird gesungen von der 20-jährigen Eden Golan, welche die israelische Castingshow «The Next Star» für sich entschieden hatte und in ihrem Leben bereits so einige Anfeindungen erfahren musste.
Geboren ist Eden Golan in Israel als Tochter sowjetischer Immigranten. Die Familie zog 2009 aus beruflichen Gründen nach Moskau, erlebte dort bereits antisemitische Anfeindungen und verliess die Stadt nach Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder in Richtung Israel.
Der Geheimdienst rät ihr, im Hotel zu bleiben und kein Hebräisch zu sprechen: Eden Golan aus Israel.
Und nun soll also der blosse Vortrag ihres harmlos-süffigen Pop-Liedchens für den grössten Volksaufstand an einem Musikanlass seit Menschengedenken sorgen? Ein Lied, das notabene noch eiligst umgetextet wurde, um ja keine versteckten Botschaften zum aktuellen politischen Geschehen im Nahen Osten zu verbreiten.
Empörtes Deutschland
Der Krieg im Gazastreifen hat zu erstaunlich lautstarken Forderungen geführt, Israel vom ESC auszuschliessen. Als die Veranstalter ankündigten, dass dies nicht der Fall sein werde, wurden Stimmen laut, den Wettbewerb zu boykottieren. Seither haben über 1000 schwedische Kunst- und Musikschaffende eine Petition unterzeichnet, in der sie den Ausschluss Israels forderten.
Und auch sonst wurde der Druck auf die Teilnehmenden erhöht: Der deutsche ESC-Teilnehmer Isaak empörte sich in einem Interview mit dem ZDF: «Mir wird vorgeworfen, wenn ich den ESC nicht boykottiere, sei ich Mittäter am Genozid in Gaza.» Dermassen verhärtet sind die Fronten, dass der israelische Geheimdienst seine ESC-Delegation angehalten hat, die Hotelzimmer nur für den Auftritt zu verlassen und kein Hebräisch zu sprechen.
Dass sich Juden in Malmö unwohl fühlen, ist leider kein neues Phänomen. Bereits 2010 beklagte die Holocaust-Überlebende Judith Popinski von einem «wachsenden Judenhass» in der drittgrössten schwedischen Stadt. Immer mehr Juden würden die Stadt verlassen, die Masse der muslimischen Einwanderer bringe es mit sich, dass der Hass des Nahen Ostens sich in der Stadt verbreite.
Im gleichen Jahr titelte «Die Welt»: «Malmö vertreibt seine Juden» und berichtete von massiven Einschüchterungen, Anschlägen und der Gleichgültigkeit der Politik. 2010 zählte die jüdische Gemeinde in Malmö noch 700 Menschen. Heute sei die Stadt quasi «judenrein», schreibt der streitbare französische Philosoph Alain Finkielkraut in seinem Buch «Ich schweige nicht». Jüdisches Leben sei verschwunden, weil das arabische so dominant geworden sei, ist sein Befund.
Trump und die Schweden
Galt Schweden für Linke lange als Vorzeigeland einer toleranten, diversen und offenen Migrationspolitik, wird es exakt deswegen von der Rechten als gescheiterter Staat vermaledeit. Der britische Politiker Nigel Farage bezeichnete Malmö 2017 als «Vergewaltigungshauptstadt Europas» und nannte als Grund den Umstand, dass Schweden einer der grössten Flüchtlingsempfänger der EU war. Auch Donald Trump schlug in einer Rede in die gleiche Kerbe – die schwedische Bevölkerung reagierte mit Befremden.
Tatsache ist, dass vor allem die Bandenkriminalität in Schweden derzeit aus dem Ruder läuft. Schweden hat die mit Abstand höchste Mordrate Europas, in Stockholm liegt sie – laut einer Berechnung des «Wall Street Journals» – pro Kopf 30-mal höher als in London. Es stimmt auch, dass Schweden eine der höchsten Vergewaltigungsziffern der Welt aufweist, allerdings ist die Zahl rückläufig, und es ist nicht möglich, diese Straftaten mit der ethnischen Zugehörigkeit der Täter in Verbindung zu bringen, da solche Daten in Schweden nicht veröffentlicht werden. Experten erklären sich die hohe Zahl mit der vergleichsweise minutiösen Art der Erfassung von Sexualdelikten.
Und trotz all dieser realen und herbeigeredeten Probleme rangierte das diverse Schweden auch 2023 im World Happiness Report auf Rang 6 der glücklichsten Länder, knapp vor der Schweiz und weit vor den USA und dem Vereinigten Königreich.
Mitten im Sturm der aktuellen Weltpolitik
Doch zurück zum ESC und dem diversen Malmö. Die 360’000 Einwohnerinnen und Einwohner stammen aus 184 verschiedenen Ländern. Davon sind über 50’000 Muslime – und diese dürften gerade nicht zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen. Die Stimmung ist aufgeheizt.
Wer in dieser Woche nicht gegen die militärische Intervention Israels im Gazastreifen oder gegen die Teilnahme Israels am ESC auf die Strassen geht, hat andere Gründe, sich provoziert zu fühlen. Letzten Freitag wurden bei islamfeindlichen Protesten im Umfeld des ESC Korane und palästinensische Fahnen verbrannt. Zumindest Ersteres ist in Schweden von der Meinungsfreiheit gedeckt und gilt als beliebtes Mittel der politisch-religiösen Scharmützel.
Als ob sich der Irrsinn der Welt über der Stadt zusammenbrauen würde: Koranverbrennung in Malmö.
Deshalb sah sich Schweden bereits im August letzten Jahres gezwungen, die Terror-Bedrohungslage auf 4 von 5 heraufzustufen. Die al-Qaida hatte das Land wegen der Koranverbrennungen zum präferierten Anschlagsziel erkoren. Unter den Koran-Schändern sollen sich – nach Recherchen der NZZ – neben rechtsradikalen Schweden auch vertriebene christliche Iraker, eine persische Performance-Künstlerin oder fanatische schwedische Islam-Gegnerinnen befunden haben. Gewisse Kreise wähnen sogar russische Drahtzieher hinter den Aktionen, die den türkischen Präsidenten Erdogan immerhin derart erzürnt haben, dass er monatelang Schwedens Nato-Beitritt verzögert hat.
So befindet sich Malmö mit seinem ESC also mitten im Sturm der aktuellen Weltpolitik. Oder anders ausgedrückt: Es scheint, als würde sich der ganze Irrsinn der Welt gerade über Malmö zusammenbrauen. Die Relationen und die Dimensionen sind längst aus dem Ruder gelaufen.
Es wird erwartet, dass auf das massive Polizeiaufgebot mehrere 10’000 Demonstrierende aus aller Welt treffen werden – mittendrin 100’000 ESC-Fans, die nicht viel mehr im Sinn haben, als 37 binnenkontinentale Poplieder von durchschnittlichem künstlerischem Wert zu bejubeln. Das kann ja heiter werden. Oder um es in den Worten von Baby Lasagna zu sagen: «Rim Tim Tagi Dim.»
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