Die Siegesparaden-Fans in Russland feiern nichts anderes als den Sieg des Gulag über die Konzentrationslager. Sie feiern ein Ungeheuer, das ein anderes besiegt

die siegesparaden-fans in russland feiern nichts anderes als den sieg des gulag über die konzentrationslager. sie feiern ein ungeheuer, das ein anderes besiegt

Sowjetische Panzer T-34 an der Siegesfeier in Sankt Petersburg, 9. Mai 2024. Anton Vaganov / Reuters

Der grosse Sieg im grossen Krieg. Diese Erzählung, die auf Knochen gebaut und mit Blut gedüngt wird, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Karneval des Todes entwickelt. So auch während der Feierlichkeiten im Jahr 2015, dem Jahr nach der Krim-Annexion, dem letzten, das ich auf Sachalin verbracht habe. «Achtung, hier spricht Moskau! Achtung, hier spricht Moskau!» – die Stimme des sowjetischen Radiosprechers Lewitan schmettert wie ein melancholisches Artilleriefeuer in Zeitlupe über den Platz: «Am 8. Mai 1945 unterzeichneten in Berlin Vertreter der deutschen Führung den Akt der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte.»

Es war Frühling, kalter Frühling auf Sachalin, und die Menschen standen mit Nelken auf dem Leninplatz im Zentrum der Hauptstadt. Aus den Lautsprechern dröhnte es: «Dieser Feiertag riecht nach Schiesspulver . . . Freude, Stolz und Tränen in den Augen. . .» Das «Unsterbliche Regiment» marschierte. Im Kopierladen ausgedruckte Porträts, vergrössert und auf Transparente geklebt: ein Grossvater, ein Urgrossvater, ein Vater. Für den Trauerzug. Die Lebenden trugen die Toten vor sich her, Jahr für Jahr. Nach den Paraden waren die Mülltonnen voll mit den Porträts unsterblicher Verwandter.

Ein Junge von etwa fünf Jahren klammert sich an das Bein seiner Mutter, er trägt eine Feldmütze mit einem Sankt-Georgs-Band. Die Mutter des Jungen erzählt ihrer Freundin, wie ihr Grossvater ohne Arme aus dem Krieg zurückgekommen sei, wie die Familie in Armut in einer Erdhütte gelebt habe, wie zwei Kinder gestorben seien und ihr Grossvater nur noch wenige Jahre nach dem grossen Sieg dahinvegetiert sei. Sie wendet sich an ihren Sohn: «Saschka, du wirst sicher auch wie dein Grossvater Soldat?» Der Junge nickt unsicher mit dem Kopf. Will er wirklich wie sein Opa ohne Arme nach Hause kommen, in einer Erdhütte leben und hungern?

Die Freundin der Mutter lächelt ihn liebevoll an und erzählt, dass ihre Grossmutter auch im Krieg gewesen sei, dass sie sehr alt sei und keine Medikamente vom Staat bekomme, dass sie sich kaum noch bewegen könne und es niemanden gebe, der sich um sie kümmere, alle hätten die Nase voll von ihr, «hoffentlich nimmt Gott sie bald zu sich». «Lasst uns das Andenken an die Veteranen des Grossen Vaterländischen Krieges ehren», tönt es aus dem Lautsprecher. In der Nähe beginnt eine Schlägerei zwischen Betrunkenen, die Mutter nimmt Saschka an die Hand, sie gehen weiter.

Das Datum eines grossen Sieges im grössten Krieg

Es wird allgemein angenommen, dass der 9. Mai das Wichtigste ist, was die ehemaligen Sowjetbürger in der ganzen Welt verbindet – das Datum eines grossen Sieges in einem grossen Krieg. Der Krieg muss in diesem Fall gross, der grösste sein, um die Bedeutung des Sieges, die Stärke des Volkes, seines Widerstandswillens, seine Unbezwingbarkeit zu betonen. Mit der Machtübernahme Putins ist diese übergreifende posttraumatische Störung in die Kategorie der Psychose und Kriegshysterie gerückt und ausschliesslich russisch geworden.

Diese Hysterie wird in allen Republiken der Russländischen Föderation manisch gefeiert – und doch ist es noch immer der russische Soldat, der der Sieger bleibt, es ist der russische Geist, der für seine Unbeugsamkeit gefeiert wird, es ist tatsächlich der «einfache russische Mensch», der die Opfer erbrachte.

Die Korrumpierung des historischen Gedächtnisses führt zu einer schleichenden vollständigen Ersetzung der historischen Fakten. Wenn ein Land einen grossen Sieg feiert, als Vorbereitung auf einen zukünftigen Krieg, einen ewigen Krieg – egal welchen –, dann ist dieser Krieg programmiert. Er wird, nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den gesamten «kollektiven Westen», geführt, von dem niemand genau sagen kann, worum es sich da eigentlich handelt. Vermutlich sind die Grenzen dieses kollektiven Teils der Welt ebenso variabel wie die Grenzen der Föderation, die nach den Worten ihres Präsidenten nirgendwo enden.

Allerdings scheint sein revanchistischer Slogan «Wir können es wiederholen», der nach der Besetzung der Krim populär wurde, nicht nur erbaulich zu sein, denn dieser Krieg ist nicht allein sinnlos, er ist auch nicht siegreich. Er ist kostspielig in Bezug auf Menschen und Geld, er ruiniert jedes Potenzial des Aggressors, dessen Ansehen in der Welt, das historische Vermächtnis, und er hat den Begriff «russisch» kontaminiert und zum Synonym des Bösen gemacht.

Zwei Feiern, zwei klerikale Reden im Jahr

In Juschno-Sachalinsk, wo ich geboren wurde, wurde der Tag des Sieges zweimal gefeiert. Am 9. Mai und am 3. September, als das Gebiet Sachalin «von den japanischen Militaristen befreit» wurde. Für uns hiess das zweimal im Jahr klerikale Reden: «In unserem Gedächtnis für immer . . ., Heldentat . . ., werden nicht vergessen . . .», erbärmlich gekleidete Veteranen mit erbärmlichen Appellen: «Brauche Reparatur für ein Dach . . ., Medikamente . . ., brauche Hilfe . . .» Stattdessen bekommen sie einen Strauss Nelken, ein Lebensmittelpaket – Buchweizen, Zucker, Salz, Öl, Teegebäck in Kilopackungen – und leere Versprechen.

Obwohl mein Grossvater im Krieg gekämpft hatte und verwundet wurde, wurde in unserer Familie keins dieser Daten gefeiert. Der Grossvater sprach mit uns Enkelkindern nie über den Krieg, und nur am 9. Mai gedachte er seiner toten Freunde – das war der ganze Feiertag. Ein stilles Innehalten. Meine Eltern erzählten uns mehr – zum Beispiel, dass Krieg immer beängstigend ist, dass Sowjetbürger, die von den Deutschen gefangen genommen wurden, in den Gulag geschickt wurden, dass die Verwundeten aus den Grossstädten vertrieben wurden, damit die Invaliden nicht die heroischen Panoramen der Nachkriegssowjetunion verschandelten, und wie schlecht sie nach dem Krieg lebten.

Im Allgemeinen wurden uns keine traditionellen Werte vermittelt, wir trugen keine Sankt-Georgs-Bänder, wir standen nicht mit den Porträts unsrer Grossväter auf der Parade, wir wurden als Kinder nicht in Militäruniformen gesteckt. Mein Schwiegervater, der aus meiner ersten Ehe stammt, erzählte mir, dass sein Vater beim Geheimdienst diente. Am Tag des Sieges betrank er sich und schlug seine Frau und sein Kind so sehr, dass der kleine Junge, der mein Schwiegervater werden sollte, sich vor Angst bepinkelte.

Am 1. Mai verliessen er und seine Mutter von da an jeweils das Haus und versteckten sich in der Nachbarschaft vor dem siegreichen russischen Soldaten, der sie im Suff hätte töten können. Mein zukünftiger Schwiegervater ging zum Boxen und lernte, sich gegen seinen Vater zu wehren. Aber er hat den 9. Mai nie als Feiertag betrachtet.

Der Gulag besiegt die Konzentrationslager

Trotz der Tatsache, dass jede Familie durch den Krieg traumatisiert wurde, haben die wenigsten Siegesparaden-Fans im heutigen Russland eine Ahnung von der wirklichen Geschichte ihres Landes, viele von ihnen wissen nicht einmal, dass der Krieg im September 1939 mit dem Einmarsch deutscher und dann sowjetischer Truppen in Polen begann.

Was sie feiern, ist nichts anderes als der Sieg des Gulag über die Konzentrationslager, sie feiern ein Ungeheuer, das ein anderes besiegt. Sie verherrlichen den Tod ihrer Grossväter und Urgrossväter und bedrohen die ganze Welt, ohne zu bemerken, dass diejenigen, die sie besiegt haben, heute viel besser leben als die Sieger. Der ganze Stolz des postsowjetischen 9. Mai konzentriert sich auf Militärfahrzeuge, Uniformen, Feldküchen, Soldatenbrei und Passagierbusse mit der Aufschrift «Nach Berlin», die einen aber nur in die nächstgelegenen Moskauer Vorstädte bringen können.

Die Siegesparade vom 9. Mai unterstreicht einen permanenten Kriegszustand. Und der Krieg wird nicht gegen irgendjemanden, sondern gegen sogenannte Faschisten geführt. Jeder hat jetzt die Möglichkeit, die Heldentat der Vorfahren zu wiederholen. In Kindergärten und Schulen tragen die Kleinsten Gedichte darüber vor, wie sie aufwachsen und den «faschistischen Abschaum» besiegen werden, zeigen Schlachtszenen, Miniaturen, stellen die Gräber von Soldaten dar – die Eltern sind gerührt, begeistert, ihre Kinder wachsen zu Patrioten heran, und bald können sie der Armee übergeben und erfolgreich zum aktuellen Wechselkurs gegen ein neues Auto oder Brennholz eingetauscht werden. Je nachdem, wie hoch der Lohn für einen Freiwilligen ist.

Kürzlich trugen die Kinder der Schule Nr. 2 im karelischen Kostomukscha kugelsichere Jacken mit dem Aufnäher «Fracht 200 – wir bleiben zusammen». Fracht 200 ist der Militärjargon für eine Leiche, und der Spruch ist der, mit dem schon Söldnerführer Prigoschin geprunkt hat. Wenn man keine Leiche sein will, wenn man nicht will, dass sein Kind eine Karriere als Leiche einschlägt, dann ist man in den Augen des Regimes und von denen, die das Regime unterstützt, ein Verräter. Wer den Siegeswahnsinn vom 9. Mai verurteilt, der rehabilitiert den Nazismus.

Und das Russland, das den siegreichen Soldaten verkörpert, brüllt aus Millionen Kehlen «Hurra» und manchmal auch «Für das Vaterland, für Stalin» und singt zugleich die Verse von Bulat Okudschawa, der den Krieg als Soldat durchlebt, seine Familie in Stalins Terror verloren und die schönsten Lieder gegen den Krieg geschrieben hat. Und die Hurra-Patrioten besuchen in diesen festlichen Frühlingstagen, die arbeits- und schulfrei um den 9. Mai gruppiert sind, Konzerte, Theater und Militärmuseen, wo es bereits Abteilungen für die sogenannte Spezialoperation gibt. Doch ist bei alldem kein Funken Patriotismus zu spüren, vielmehr wirkt das alles angeschafft und leblos.

Patriotischer Unterricht in den russischen Schulen

Auf den Transparenten für den 9. Mai werden häufig Fehler gemacht, das Wort «Russland» wird falsch geschrieben, die Flagge des eigenen Landes verkehrt herum aufgehängt, die wichtigsten Ereignisse des Krieges können die wenigsten einordnen. Die einzige Quelle des Stolzes und Grund für die nationale Einheit, die Erzählung des vorgeblichen Selbstbewusstseins einer grossen Nation, ist eine Sprechblase geworden, der die Luft ausgeht, sonst nichts.

Im Rahmen des patriotischen Unterrichts zum Tag des Sieges bereiten die Schüler aller Klassenstufen einen Bericht über ihre Verwandten, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, oder über die «Helden der Spezialoperation» vor. Die gesamte Geschichte Russlands wird als Geschichte militärischer Siege erzählt, von Kriegen, die Russland selbstverständlich nie begonnen habe.

Der feministische Antikriegswiderstand hat eine «Anti-Kriegs-Lektion für den 9. Mai» vorbereitet, damit Erwachsene mit ihren Kindern zu Hause über Antimilitarismus, die Ursachen des Krieges, die Antikriegsproteste von Frauen wie den «Marsch des mütterlichen Mitgefühls» gegen den Krieg in Tschetschenien 1995, den Umgang mit Informationen und die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge sprechen können.

Die Mitglieder der Bewegung empfehlen eine Liste von Antikriegsfilmen, die an diesem Tag mit der Familie angesehen werden können. Es ist bedauerlich, dass die Schulen diese Empfehlungen nicht nutzen werden – offensichtlich braucht das Land des ewigen Krieges unendlich viele neue Helden, die durch zu viel mütterliches Mitgefühl nicht verweichlicht werden sollen.

In diesem Jahr sagen die Behörden vieler Regionen Paraden, Umzüge und Feuerwerke zu Ehren des Grossen Sieges ab. «Aufgrund der gegenwärtigen Situation», wie es in den offiziellen Medien heisst – das Ungeheuer beginnt an seinem militaristischen Eifer zu ersticken. Russlands wichtigstem Soldatenfriedhof, dem «Pantheon der Vaterlandsverteidiger», mit einer Fläche von bislang mehr als 52 Hektaren, geht der Platz aus. Er wurde 2013 eingeweiht und war für eine 200-jährige Nutzungsdauer ausgelegt. Das Verteidigungsministerium wird 17 Hektaren des Pirogowskij-Waldparks in der Region Moskau abholzen, um diesen Friedhof zu erweitern. Normalerweise enden grosse Kriege auf Friedhöfen, nur wird am 9. Mai wohl niemand den Russen davon erzählen.

Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk, Russland, geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. Im Herbst erscheint ihr Buch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung» bei Matthes und Seitz.

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