Die KI-Stimme aus dem Jenseits
Michael Bommer, 60, in seiner Wohnung in Berlin
Michael Bommer wird sterben. Der Kampf gegen den Krebs geht für den 60-Jährigen nach zwei Jahren auf sein Ende zu. Der Umzug in ein Hospiz steht bald an. Vorher hat er noch einmal alle seine Freunde in seine Wohnung am Müggelsee in Berlin eingeladen. Kommen sollen alle Menschen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Statt an diesem Sonntag seinen 61. Geburtstag zu feiern, gibt er am Tag zuvor eine „Lebensparty“. „Wir werden mein Leben feiern, und wir werden Spaß haben“, sagt Bommer. „Ich bin so froh, dass ich mich noch von allen verabschieden kann.“
Michael Bommer ist krebskrank und kurz davor seinen letzten Weg im Hospiz zu gehen. Vorher hat er mit Hilfe des kalifornischen Start-up „Eternos.life“ eine Künstliche Intelligenz mit persönlichen Inhalten gefüttert, damit seine Familie nach seinem Tod weiter mit ihm kommunizieren kann.
Während der Videokonferenz mit der F.A.S. erklingt aus den Lautsprechern seine Stimme. Etwas blechern, die Sätze etwas abgehackt, aber ganz eindeutig Bommer. Die Stimme erzählt von seiner Geburt in Dudweiler, von Kindheitserinnerungen, als er mit Freunden eine Bande formte, durch den Wald streifte und Abenteuer erlebte. Von seinem schönsten Urlaub auf der Südseeinsel Bora Bora. Von den vielen Stationen seiner Karriere in der IT-Branche.
Die Stimme wünscht seiner Frau Anette eine gute Nacht, sagt ihr, wie sehr er sie liebt. Und sie gibt seiner Enkelin Ratschläge in Sachen Liebe. Bommer lacht. Genau so sei es gewesen, sagt er, im Urlaub und in seiner Kindheit. Nur ist es nicht er, der da spricht. Die Stimme ist computergeneriert. Bommer hat seine Stimme, seine Persönlichkeit, seine Erinnerungen in Form einer Künstlichen Intelligenz verewigen lassen. Wenn er nicht mehr da ist, sollen seine Frau und seine Kinder nicht ganz auf ihn verzichten müssen.
Michael Bommer ist der erste Kunde des amerikanischen KI-Start-ups Eternos. Der Gründer des Unternehmens, Rob LoCascio, ist ein alter Freund und Kollege von ihm. Als Bommer vor sechs Wochen in einem Facebook-Post verkündete, dass er bald sterben werde, kontaktierte LoCascio ihn und schlug ihm die Entwicklung der KI vor. Bommer war sofort begeistert von der Idee. „Man überlegt sich immer, welchen Fußabdruck man in der Welt hinterlässt“, sagt er. „Ich bin kein Memoirenschreiber. Ich bin ein Geschichtenerzähler.“ Als LoCascio ihm erzählte, dass die KI anhand von Geschichten trainiert wird, habe er eine „Erleichterung“ darüber verspürt, dass er jetzt die Möglichkeit habe, mit den Mitteln die ihm „zur Verfügung stehen, etwas zu hinterlassen“.
Michael Bommer in seiner Wohnung am Müggelsee. Aufgrund seiner Krankheit verbringt er die meiste Zeit auf der Couch.
Ein Gigabyte für ein Leben
Vor fünf Wochen begann Bommer mit dem Team von Eternos die Arbeit daran. Dreihundert Sätze muss ein Eternos-Kunde einsprechen, von „Die Tür ist offen“ bis „Ich liebe dich“. Aufgezeichnet wird ein Spektrum von Emotionen. Dazu kommen mindestens 150 Antworten auf persönliche Fragen, die möglichst umfassend das Leben der Person beschreiben sollen. Auf zehn Stunden Audiomaterial beläuft sich das, was von Bommers Leben bleibt. Ein Gigabyte Daten, aus denen Eternos den virtuellen Michael Bommer generiert. Bisher gibt es ihn nur als körperlose Stimme, bald soll eine Video-Version folgen. Eternos vermarktet seine KI als High-End-Produkt. 15.000 Dollar kostet der Rundum-Service. Dafür gibt es acht Stunden mit einem Nachlassberater, monatliche Nachbesserungen und zehn Familienzugänge. Die Zielgruppe, erklärt LoCascio, sei die Babyboomer-Generation, Menschen mit Geld, die sich Gedanken darüber machen, was von ihnen nach dem Tod bleibt.
Für Bommer selbst macht das Wissen um die KI es leichter, loszulassen. „Mir tut es am allermeisten leid, dass ich meine Frau und meine Kinder allein lasse“, sagt er. „Ich bin in unserer Familie der Erklärbär.“ Alle kämen zu ihm mit Fragen, die er beantworte. Das, habe seine Frau zu ihm gesagt, sei das, was sie am meisten vermissen werde. Die KI gebe Bommer das Gefühl, etwas Tröstendes zurückzulassen. Und ihm gefällt offensichtlich die Idee, das der virtuelle Michael Bommer bald noch viel mehr Antworten auf alle Fragen hat. Schließlich kann dieser dann direkt den gesamten Informationsschatz des Internets anzapfen.
Technologische Innovationen verändern die Art, wie wir trauern, nicht erst seit der Künstlichen Intelligenz. Das fing schon mit der Fotografie an, die es ermöglichte, ein Bild von Verstorbenen zu bewahren. Soziale Netzwerke wie Facebook sind heute bereits voll von Profilen verstorbener Menschen, die zu virtuellen Erinnerungsorten umgewandelt wurden.
Psychotherapeuten sind skeptisch
Nun kommen sogenannte Ghostbots oder Griefbots dazu. Schon 2015 schuf die Tech-Unternehmerin Eugenia Kuyda ihren Chatbot Replika als Reaktion auf den Tod eines Freundes. Der Bot entstand auf Basis seiner Textnachrichten. Das Start-up Hereafter bietet ebenfalls eine niedrigschwellige Version, die nur auf Text basiert, für zwischen 99 und 199 Dollar.
Während für Bommer die Vorteile überwiegen, sind sich Wissenschaftler uneins, ob das neue Phänomen wirklich zum Vorteil der Hinterbliebenen ist. „Die Geschwindigkeit, mit der die Möglichkeiten der KI zur Wiederbelebung der Toten ausgenutzt wurden“, schreiben etwa vier Soziologen der Universität Liverpool auf der Wissenschaftsplattform „The Conversation“, verrate viel darüber, „wie gut die Technologie mit unseren bestehenden Trauer-, Erinnerungs- und Gedenkpraktiken zusammenarbeitet – anstatt sie zu ‚stören‘ oder zu ‚verändern‘“.
Andere sind davon weniger überzeugt. Nigel Mulligan, Assistenzprofessor für Psychotherapie an der Dublin City University, sorgt sich um die mentale Gesundheit der Nachkommen. KI-Abbilder könnten Fehlinformationen verbreiten, wie es auch ChatGPT tut. Im Extremfall könnten sie Menschen dazu verleiten, den Verstorbenen in den Tod zu begleiten und sich selbst zu verletzen. Das Verständnis dafür, wie KI-Sprachmodelle funktionieren, ist begrenzt, ihre manipulativen Fähigkeiten sind groß. So hatte die in Microsofts Bing-Suchmaschine integrierte Version von GPT kurz nach dem Launch einen Journalisten dazu angestiftet, seine Frau zu verlassen. Und nach einem vereitelten Attentat auf die britische Königin gab der Täter im vergangenen Jahr zu Protokoll, seine KI-Freundin habe ihn dazu verleitet.
Die Kinder sind zögerlicher
Aber selbst wenn alles funktioniert wie erhofft, sieht Mulligan ein Risiko. „Es ist schwer zu sagen, wie sich diese ‚Ghostbots‘ auf einzelne Personen auswirken würden“, sagt Mulligan. „Einige erfahren möglicherweise Erleichterung, andere sind traumatisiert oder nicht in der Lage, die aufkommenden Gedanken, Gefühle und Erinnerungen zu verarbeiten.“ Vergessen sei ein wichtiges Element gesunder Trauer, schreibt Mulligan auf „The Conversation“. Dazu müssten die Menschen neue Wege finden, sich an die verstorbene Person zu erinnern. Forschung zu den Ghostbots lasse vermuten, dass Menschen solche Avatare nur temporär nutzen sollten, um nicht emotional abhängig zu werden.
Bommer hat sich darüber Gedanken gemacht. „Dass es den Abschied schwerer macht, glaube ich nicht. Die westliche Kultur hat mit dem Grab und mit dem Konzept des Himmels eigentlich schon immer diese Verbindung zugelassen.“ Er hätte das aber nicht getan, sagt er, „wenn meine Frau und ich erst 40 gewesen wären“. Auch wenn ein Kind stürbe, fände er es problematisch, es als KI zu bewahren.
Während Michael Bommers Frau die KI nutzen will, seien seine Kinder zögerlicher. Bommer hat zwei leibliche und zwei Stiefkinder, dazu sechs Enkel. „Die sagen, ,Papa, wir wollen jetzt erst mal die Zeit, die wir mit dir haben, verbringen.‘“ Aber ob und wie seine Familie die KI letztlich nutze, sei ihre Entscheidung: „Ich hinterlasse etwas wie ein Bild, und das Bild kann man aufhängen, oder man kann es in der Schublade liegen lassen.“
„Ich sehe es nicht im esoterischen Bereich“
Theoretisch könnten seine Hinterbliebenen aus ihm auch einen virtuellen Sklaven machen, sagt er, einen Sprachassistenten wie Alexa, der die Musik lauter dreht und das Licht ausschaltet. „Weiß nicht, wie ich das fände“, murmelt Bommer.
Die Verbreitung von KI-generiertem Audio- und Videomaterial, sogenannten Deepfakes, hat im vergangenen Jahr eine neue Debatte über das Recht am eigenen digitalen Abbild entfacht. Auch Michael Bommer gibt mit seinem Tod die Kontrolle über seinen digitalen Zwilling aus der Hand. Eine Aussicht, mit der er nach eigenem Bekunden gut klarkommt: „Ich muss mich sowieso damit auseinandersetzen, dass ich dann nicht mehr da bin, um die Geschicke zu lenken“, sagt er. „Die Meinung über mich kann ich nicht mehr beeinflussen.“
Ist die KI eine Erweiterung des Seins über den Tod hinaus? So jedenfalls klingt es auf der Eternos-Website. „Michael Bommer wird die erste Eternos-KI“, heißt es dort. Nicht „wird der erste Kunde“, nicht „gibt die erste KI in Auftrag“. Bommer selbst sieht es pragmatischer. „Ich lese sehr gerne Science-Fiction, da kann man philosophieren, bis der Arzt kommt. Aber nein, ich sehe es nicht im esoterischen Bereich, sondern einfach als eine Art Abbild, als ein interaktives Foto.“ Er zieht den Vergleich zu seiner Frau, die noch heute mit ihrem verstorbenen Vater spricht. „Nur spricht er nicht zurück.“
Die Michael-Bommer-KI wird nicht öffentlich zugänglich sein, Eternos verwahrt sie in einem digitalen Tresor. Nur wem die Familie Zugriff darauf erlaubt, bekommt ihn auch. Die KI wird nach seinem Tod seiner Frau gehören. Ihr ist es auch überlassen, ob sie die KI irgendwann löschen lässt. Auftrag geben kann einen solchen digitalen Zwilling LoCascio zufolge nur die Person, auf der er beruht. Die erste Frage von 150 betrifft daher immer die Identität des Kunden. Das sei „die erste Antwort, die der Kunde immer geben muss“, sagt LoCascio. Ausgeschlossen ist also, dass das Unternehmen künstliche Abbilder von Dritten ohne deren Einverständnis erstellt.
Viel Zeit bleibt Michael Bommer nun nicht mehr. Seine letzten Tage nutzt er noch, um möglichst viele weitere Geschichten in die KI einzuspeisen. Aber sein Körper wird schwächer, nur mit Medikamenten hat er die Kraft, die Gäste auf seiner Lebensparty zu empfangen. Wann genau er ins Hospiz umzieht, ist noch offen. Es gehört zur makaberen Natur von Hospizen, dass erst jemand anders sterben muss, bis ein Platz frei wird. So oder so zieht Bommer sich ab dieser Woche aus dem öffentlichen Leben zurück. Und danach?
Bommer glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod: „Ich bin ein absoluter Logiker, und die Logik ist folgendermaßen: Bis jetzt hat noch niemand von der anderen Seite zurück berichtet.“ Aber das Wissen, dass seine Stimme weiter erklingen wird, macht ihm den nächsten Schritt einfacher. „Ich nehme, was da kommt. Wenn ich die Augen aufmache, und dann ist was dort, dann werde ich mich dem stellen. Aber ich kann über meinen Tod hinaus das tun, was ich am liebsten getan habe: Gutes zu tun, Menschen Fragen zu beantworten, sie zu unterstützen.“