Die Industriepolitik kehrt zurück
Zwei für die Wettbewerbsfähigkeit: Ursula von der Leyen und Enrico Letta
Es war das erste Mal seit Langem, dass wirtschaftspolitische Fragen ein Gipfeltreffen der Europäischen Union beherrschten. Mitte April riefen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel einen „Deal für Wettbewerbsfähigkeit“ aus. Die Schlusserklärung enthielt kaum bahnbrechende Neuigkeiten, sondern wenig strittige Stichworte wie Binnenmarkt, Bürokratieabbau, Forschung und Innovation, Handel und – als tatsächlich neues Thema – die Kapitalmarktunion. Dass diese Punkte überhaupt an prominenter Stelle auftauchten, war aber durchaus bemerkenswert. In den vergangenen Jahren hatte die Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union fast durchgehend nur instrumental eine Rolle gespielt, im Dienste der grünen und digitalen Transformation oder zur im Zweifel protektionistisch wirkenden Absicherung der europäischen „Souveränität“.
F.A.Z.-Serie: Europa hat die Wahl – Teil 1
Ändert die EU also ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung? Steht gar ein „Paradigmenwechsel“ zugunsten einer wirtschaftsfreundlicheren Politik bevor, wie er in Vorentwürfen der Gipfelerklärung erwähnt war? Einen Richtungswandel hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon angedeutet, als sie Anfang März zur Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) gewählt wurde. Die CDU-Politikerin bestritt ihre erste Amtszeit vor allem mit dem „Green Deal“, der in ihrer Parteienfamilie zunehmend auf Kritik stieß und ihre Nominierung zu gefährden drohte. Schon auf dem Nominierungsparteitag in Bukarest versprach von der Leyen einen vorsichtigen Kurswechsel.
Jetzt will sie sich mehr für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft einsetzen. Kurz nach dem Gipfeltreffen präsentierte sie dazu im Europaparlament eine „Europäische Wirtschaftsagenda für 2024“, die vier Punkte enthält: die Kapitalmarktunion, die Senkung der Energiekosten, ein Programm gegen den Fachkräftemangel und das Aushandeln weiterer Freihandelsabkommen, da ja Europa ein „Kontinent des Handels“ sei.
Immer wieder versucht, den Binnenmarkt zu „vollenden“
Mindestens drei Gründe sprechen indes dagegen, dass das EU-Gipfeltreffen und die Agenda der Kommissionschefin den apostrophierten Paradigmenwechsel in Richtung einer Politik einläuten, die die Produktivität oder das Wachstumspotential in der EU erhöhen könnte. Da sind einmal die Kommission und ihre Chefin. Von der Leyen selbst hat am Thema kein Interesse. Die vor allem zuständigen Kommissare Thierry Breton (Binnenmarkt und Industrie) und Paolo Gentiloni (Wirtschaft und Währung) wollen die Wettbewerbsfähigkeit mit staatlicher Lenkung herbeiplanen, finanziert durch Subventionen der EU und der Mitgliedstaaten.
Historische Erfahrungen zeigen zweitens, dass die EU die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit schon oft weitgehend folgenlos in Angriff genommen hat. Immer wieder haben in den vergangenen rund 30 Jahren hochmögende Expertengruppen und Fachleute der EU nahegelegt, sie müsse Bürokratie abbauen, den Binnenmarkt stärken, Wettbewerb und Innovation fördern, Handelsschranken abbauen – also schlicht den Binnenmarkt „vollenden“.
1995 forderte ein „Rat für Wettbewerbsfähigkeit“, ein kurz zuvor gebildetes Beratungsgremium um den späteren italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi, die „Stärkung des Wettbewerbs sowie die Förderung des technologischen Wandels und der beruflichen Qualifikation“. Dem folgte im Jahr 2000 der Beschluss der Staats- und Regierungschefs auf einem Gipfeltreffen in Lissabon, Europa innerhalb der kommenden zehn Jahre zur wettbewerbsfähigsten und wachstumsfreudigsten Wirtschaftsregion der Welt zu entwickeln. Die in der „Lissabon-Agenda“ entwickelten Wachstums- und Investitionsziele verfehlte die EU weit, weshalb niemand mehr etwas von „Lissabon“ hören will. Im Mai 2010, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, legte der frühere Binnenmarkt- und Wettbewerbskommissar Mario Monti der EU einen neuen Bericht vor, der einen „Neustart des Binnenmarkts“ forderte. Konsequenzen hatte auch der Bericht keine.
Berichte italienisch geprägt
In diesem Jahr stehen zwei weitere einschlägige Berichte auf der Tagesordnung. Den einen, von den Staats- und Regierungschefs bestellt, hat der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta im April erstattet. Seine schwammige Kernthese lautet, der Binnenmarkt sei „viel mehr als ein Markt“. Der zweite Bericht, den die EU-Kommission beim früheren italienischen Ministerpräsidenten und EZB-Chef Mario Draghi in Auftrag gegeben hat, wird für Juni erwartet und dürfte ähnliche Inhalte haben. Dass alle Autoren der Wettbewerbsfähigkeits-Berichte – Ciampi, Monti, Letta, Draghi – früher italienische Regierungschefs waren, mag Zufall sein. Eine gewisse italienische Prägung der Berichte lässt sich aber gerade derzeit schwerlich bestreiten.
Sicher: Letta und Draghi bekennen sich zum Binnenmarkt. In ihrem Verständnis ist das wichtigste Instrument zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft aber Geld; vom Staat, aber auch von privaten Investoren. Weil staatliche Subventionen wegen der Überschuldung vieler Staaten immer mehr an Grenzen stoßen, ist in dieser Lesart auch privates Kapital nötig, um die „großen Herausforderungen“ der EU zu finanzieren. Das ist der Hauptgrund dafür, dass eine Kapitalmarktunion für alle EU-Staaten als zunehmend attraktiv gilt. Letta fügte in der F.A.Z. hinzu, wenn privates Kapital künftig eine wichtigere Rolle spiele, könne das doch für Deutschland ein „Brückenargument“ sein, das die Zustimmung für neue gemeinsame EU-Schulden erleichtere. Der Bundeskanzler ließ für diesen Gedanken allerdings keine Sympathie erkennen.
Schlüsselsektoren identifizieren und fördern
Der dritte Grund, der gegen eine grundlegende wirtschaftspolitische Richtungsänderung spricht, besteht in den angestrebten Instrumenten für die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit. Schon bisher bestand die vor allem von Breton forcierte EU-Wirtschaftspolitik in intervenierender Industriepolitik nach französischer Machart. Breton fand dafür unterschiedliche Bezeichnungen und Begründungen. Der „Wiederaufbau“ nach der Pandemie fällt darunter, auch die „strategische“ Ausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik als Antwort auf den amerikanischen „Inflation Reduction Act“ mit dem Argument, die EU müsse „autonomer“ werden. Auch die EU-Klimapolitik, etwa die gezielte Förderung der Produktion von Batteriezellen für E-Autos, bestand in Industriepolitik. In der im Februar beschlossenen „Netto-Null-Industrie-Verordnung“ ist das Ziel verankert, grüne Industrie stärker zu fördern.
Die Diskussion um den Sinn von Industriepolitik ist dabei so alt wie die EU selbst. Selten ist damit gemeint, dass die Politik darauf achte, die Rahmenbedingungen für die Industrie allgemein günstig zu gestalten – auch wenn manche Ökonomen derzeit argumentieren, der Gegensatz zwischen einer solchen „horizontalen“ und einer sektorspezifischen „vertikalen“ Industriepolitik sei im Schwinden begriffen. In der EU-Praxis geht es unverändert darum, Schlüsselsektoren und strategisch bedeutsame Technologien zu identifizieren und diese zu fördern. Weil die EU dafür nur über begrenzte Mittel verfügt, hat die Kommission vor allem die Mitgliedstaaten dazu ermächtigt, etwa über eine Lockerung des Beihilferechts. Ein klassisches Beispiel sind die „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI). Diese „wichtigen Projekte“ können subventioniert werden, wenn sich mehrere Staaten beteiligen. Die erste von der Kommission 2018 definierte IPCEI-Branche war die Chipherstellung, gefolgt von der Batteriezellenproduktion.
Kapitalmarktunion statt „Green Deal“
Das Beispiel illustriere gut den ebenfalls alten fundamentalen Einwand gegen solche Industriepolitik, sagt der Ökonom und frühere Wirtschaftsweise Lars Feld: Der Staat könne nicht wissen, welche Wirtschaftsfelder und Unternehmen sich als zukunftsfähige „Schlüsselbranchen“ herausstellen. Die IPCEI-Branchen seien es jedenfalls nicht gewesen. Als diese erstmals von der Kommission definiert wurden, habe sich niemand vorstellen können, dass kurze Zeit später die Pharmaindustrie für die Weltwirtschaft zur wichtigsten Industrie werden sollte. „Ohne die Erfindung von Impfstoffen gegen das Coronavirus wäre die Bewältigung der Pandemie nicht so bald möglich gewesen, und die wirtschaftliche Erholung hätte viel länger auf sich warten lassen“, sagt Feld. Nur das privatwirtschaftliche Engagement der Gebrüder Strüngmann habe das Unternehmen Biontech bis zum Beginn der Pandemie 2020 überleben lassen. Erst die Produktionserweiterung habe der Staat subventioniert.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass die neue Betonung der Wettbewerbsfähigkeit eine Abkehr von derart verstandener Industriepolitik bedeutet. Der Letta-Bericht werde die Ausrichtung der EU-Wirtschaftspolitik jedenfalls kaum beeinflussen, glaubt Rupprecht Podszun, ein Wettbewerbsjurist an der Universität Düsseldorf. Der Italiener habe keine Ambitionen, die EU-Industriepolitik zurückzudrängen. Er wolle sie aber auch nicht massiv stärken.
Die Staats- und Regierungschefs wollen ihre veränderten Prioritäten in der Wirtschaftspolitik offenbar immerhin beibehalten. In ihrer „Strategischen Agenda“ , die sie der neuen Kommission für den Zeitraum bis 2029 auf den Weg geben und die sie bis Juni beschließen wollen, ist viel von Wettbewerbsfähigkeit die Rede. In den in Brüssel zirkulierenden Entwürfen kommt der „Green Deal“ nur noch am Rande vor. Stattdessen wird die Bedeutung der Kapitalmarktunion und des Abbaus bürokratischer Lasten für die Wirtschaft hervorgehoben.
Der Ausgang der Europawahl wird die künftige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in der EU allenfalls indirekt beeinflussen. Wie die alte hat auch die neue Kommission das Initiativrecht in der Gesetzgebung. Alle wichtigen Parteienfamilien werden sich dort wiederfinden, denn die Kommissare werden nach der Wahl von den nationalen Regierungen nach Brüssel entsandt und nicht gewählt. Von der Kommission wird ein scharfer Kurswechsel also eher nicht ausgehen. Ob von der Leyen Kommissionschefin bleibt, hat ebenso Bedeutung wie die Frage, welche Posten nach der Wahl an wen gehen. Auch die künftige Zusammensetzung des Parlaments hat Einfluss auf die künftige Gesetzgebung. Aber genauso einflussreich bleiben die Mitgliedstaaten, die bei dieser Wahl nicht zur Abstimmung stehen.