Der Wegbereiter für die Brüller von Hamas-Parolen – Jean Ziegler ist ein Postkolonialist avant la lettre
Bei seinen Vorlesungen erzählte Jean Ziegler von den Treffen mit berühmten Kommunisten, von dem Kampf gegen den «Kapitalismus» – und natürlich von seinen Prozessen. Joël Hunn / NZZ
Der Kopf des Doktoranden war knallrot angelaufen: Was mir eigentlich einfalle, brüllte er. Eben hatte er mich gefragt, was in demokratischer Hinsicht von den neusten Entwicklungen in Algerien zu halten sei. Die Islamische Heilsfront hatte dort im Dezember 1991 die erste Runde der Wahlen haushoch gewonnen, worauf die Armee geputscht und die Machtübernahme der Islamisten verhindert hatte.
Meine Antwort lautete sinngemäss, dass es für die Feinde der Demokratie keine Demokratie geben dürfe – und ebendas brachte den Assistenten in Rage. Meine Äusserung sei eine paternalistische Missachtung des Volkswillens. Woher ich denn wisse, dass Islamisten Feinde der Demokratie seien und unsere politische Ordnung die bessere sei. Kurz, meine Äusserungen seien Ausdruck westlicher Arroganz.
Auch wenn die Sympathien der postmodernen Linken gegenüber Islamisten und islamistischen Organisationen spätestens heute, nach dem Pogrom vom 7. Oktober 2023, für alle offensichtlich sind, war dies damals ein Kuriosum. Wie konnte es sein, dass eine Person aus dem Westen als Fürsprecher von radikalen Islamisten auftrat? Und dass man Widerspruch dazu einfach niederbrüllte?
Propagandistische Lehrveranstaltungen
Das Studium der Hautes Études Internationales (HEI) an der Universität Genf, das ich im Herbst des Jahres 1991 begann, bestand aus zwei Jahreskursen, die man obligatorisch zu absolvieren und deren Prüfungen man zu bestehen hatte. Anschliessend würde es im altehrwürdigen Institutsgebäude des HEI, in der Villa Barton am Genfersee, weitergehen, sofern man das Grundstudium «überleben» sollte, denn die Durchfallquote war recht hoch. Das Fach Soziologie wurde zwischen zwei Professoren aufgeteilt. So hörten wir im ersten Semester Patrick de Laubier, der uns einiges über Émile Durkheims Soziologie erzählte. Im zweiten Semester war Jean Ziegler an der Reihe.
Da Jean Ziegler aufgrund seiner Publikationstätigkeit sowie seiner Freundschaften mit bekannten Sozialisten und Revolutionären wie Che Guevara, Fidel Castro oder Robert Mugabe schon damals weit über die Schweizer Grenzen hinweg bekannt war, hatte ich mit grosser Aufregung auf seine Vorlesungen gewartet. Ich hatte zwar eine gewisse Vorahnung davon, was mir bevorstand. Allerdings hatte ich, anders als viele Kommilitonen, seinen Bestseller «Die Schweiz wäscht weisser» nicht gelesen, in dem er den Schweizer Finanzplatz massiv angegriffen und sich mit einigen sehr mächtigen Männern angelegt hatte. Meine jugendliche Sensationslust wurde nicht enttäuscht. Spektakulär waren die Vorlesungen des damaligen SP-Nationalrats auf jeden Fall. Ziegler hielt allerdings nicht wirklich Vorlesungen ab, sondern nutzte seine Lehrveranstaltung für sozialistische Propaganda.
Er erzählte sehr viel von seinem ereignisreichen Leben, von seinen Treffen mit berühmten Kommunisten, von seinem Kampf gegen den «Kapitalismus» und gegen die «Kannibalen», wie er Kapitalisten nannte – und natürlich von seinen Prozessen. Einmal lud er uns Studenten zu einem gegen ihn geführten Strafprozess ein, nachdem er vom jüdischen Genfer Financier Nessim Gaon wegen Ehrverletzungsdelikten angezeigt worden war, im Zusammenhang mit «Die Schweiz wäscht weisser». Ziegler, so hörte ich von Kommilitonen, hasse Israel. Ich solle meine israelfreundliche Haltung in seiner Gegenwart bloss nie offenbaren.
Der Häuptling mit den Beschneidungsinstrumenten
Dass ich an der Universität Genf meine politischen Ansichten verbergen musste, hatte ich nach dem Vorfall mit dem Assistenten ohnehin begriffen. Nathalie, eine Kommilitonin aus Belgien mit langem blondem Haar, die das erste Studienjahr repetierte und mit einem Freund von mir ausging, meinte hingegen, ich müsse mich aufgrund meines Namens und meines südländischen Aussehens überhaupt nicht fürchten vor der Prüfung bei Ziegler. Dieser behandle Studenten wie mich bevorzugt und lasse Hellhäutige und Blonde wie sie durchfallen. Sie sollte recht behalten.
Im zweiten Semester bestand das Fach Soziologie nicht nur aus den Vorlesungen Zieglers, in denen er linken Politaktivismus betrieb. Vielmehr hatten wir bei einem seiner drei Assistenten, die alle aus afrikanischen Ländern stammten, eine Seminararbeit zu verfassen. Ich wurde in die Seminargruppe von Mohammed Abdou eingeteilt, einem Prinzen aus Benin. Meine Seminararbeit bestand darin, eine Doktorarbeit aus Benin schriftlich zusammenzufassen, die mir Abdou in Form von Fotokopien überreicht hatte. Ihr Titel lautete «Die Machtorganisation der Wassangari in Kpandé im 19. Jahrhundert», und sie handelte von einem Häuptling in der Gegend von Kpandé in Benin, der im Besitz heiliger Beschneidungsinstrumente war.
Die Bücher, die wir bei Ziegler zur Prüfungsvorbereitung lesen mussten, unterschieden sich thematisch nicht besonders von meiner Seminararbeit, und ich erwarb mit diesen sicherlich nicht die erforderliche Grundausbildung im Fach Soziologie, denn es handelte sich um seine eigenen Publikationen. Ziegler selbst unterschied zwar zwischen seinen livres d’intervention und livres scientifiques und gab an, dass wir als Prüfungsvorbereitung nur die Letzteren lesen müssten. Seine anderen Bücher «dürfen» wir lesen, so Ziegler.
Allerdings bestanden auch seine sogenannten wissenschaftlichen Abhandlungen meist aus postkolonialer Ideologie, kommunistischer Propaganda, Hass gegen den Westen und der Verherrlichung gewalttätiger Diktaturen sowie blutrünstiger Rebellen- und Guerillatruppen. Wir hatten insgesamt drei seiner Bücher zu lesen: «Der Sieg der Besiegten»; «Dreht die Gewehre um! Soziologie-Handbuch der Opposition» und «Die Rebellen: Gegen die Weltordnung». Letzteres umfasste mehr als 600 Seiten, weshalb ich die meisten Kapitel grosszügig übersprang und mich auf die Notizen von Nathalie verliess, die sie mir zur Verfügung gestellt hatte. Am Schluss hatte ich aus Zieglers Buch einzig den Abschnitt über Augusto César Sandino aus Nicaragua gelesen, den Urvater der Sandinisten.
Dann kam der Morgen der mündlichen Prüfung, an welchem wir Studenten erst erfuhren, wer von den beiden Professoren uns prüfen würde, was durch Losziehung entschieden wurde. Die Ziehung war von Abdou vorgenommen worden, der mir sogleich mitteilte, dass ich – sofern ich möchte – die Prüfung so wie vorgeladen am Morgen absolvieren könne, allerdings nur bei de Laubier, weil Ziegler am Morgen wegen Zahnschmerzen ausfalle. Er könne die Prüfung erst am Nachmittag abnehmen. Ich lehnte das Angebot ab, begab mich nach Hause und las noch einmal über Sandino.
«Ich stamme ursprünglich aus der Türkei»
So kam es, dass ich meine mündliche Soziologieprüfung bei Jean Ziegler absolvierte, der sich während der ganzen Zeit die Wange hielt und, vom Zahnarzt kommend, Schwierigkeiten beim Sprechen hatte und vor sich hin nuschelte. Bevor Jean Ziegler mit seinen Prüfungsfragen begann, wollte er von mir wissen, woher ich stamme, und sprach dabei Berndeutsch, weil ich mich vor der Prüfung einige Male auf Schweizerdeutsch mit ihm unterhalten hatte. Nathalies Worte gingen mir durch den Kopf, und ich antwortete: «Ich stamme ursprünglich aus der Türkei.» Ob ich denn als Gastarbeiterkind mit meinen Eltern in die Schweiz gekommen sei, fragte er weiter. Ich log und bejahte die Frage.
Ich wollte nicht, dass Ziegler von mir erfuhr, dass meine Eltern Akademiker waren und dass wir, anders als viele Migranten aus der Türkei, nicht als Gastarbeiter in die Schweiz gekommen waren. Jean Ziegler war über meine Antwort befriedigt und lächelte mild, soweit seine Zahnschmerzen dies zuliessen, und wechselte ins Französische. Das Prüfungsthema war – o Wunder – Sandino! Ich, das vermeintliche Gastarbeiterkind, konnte praktisch jede Frage beantworten und bekam die Note 5,75 (von 6). Ja, ich weiss, die Welt ist nicht gerecht, schon gar nicht, wenn ein Jean Ziegler im Spiel ist!
Da ich über die ideologische Ausrichtung und Indoktrination, die ich in den Fächern Politologie und Soziologie vorfand, unzufrieden war, entschied ich, das Studium in Genf aufzugeben und in Basel Jura zu studieren. Jedenfalls wollte ich nicht mehr an einer Universität studieren, die ein solches Biotop wie jenes von Jean Ziegler tolerierte.
Dies erst recht, als ich erfuhr, dass Nathalie eine 2 bekommen hatte. Gemäss Darstellung ihres Freundes war Ziegler schlecht gelaunt, weil er kurz zuvor vom Tod Willy Brandts erfahren hatte. Seit jenem Oktober 1992 setzte Ziegler seinen Weg unbeirrt fort. Er unterstützte und förderte den Islamisten Tariq Ramadan, der die Ideologie der Muslimbruderschaft in den universitären Betrieb brachte, wurde vom Antisemiten Muammar al-Ghadhafi mit einem «Menschenrechtspreis» ausgezeichnet, zusammen mit dem Holocaust-Leugner Roger Garaudy. Und er machte Stimmung gegen Israel, indem er dem Staat bereits 2005 vorwarf, in Gaza ein «immenses Konzentrationslager» zu betreiben.
«Israelischer Staatsterror» und Zitate von Antisemiten
Am 7. November 2023, einen Monat nach dem verheerenden Pogrom in Israel, das von der Hamas und Teilen der palästinensischen Zivilbevölkerung begangen wurde, veröffentlichte Jean Ziegler in der Zeitung «Work» der Unia, der grössten Gewerkschaft der Schweiz, einen Artikel mit dem Titel «Schweizer Waffen töten in Gaza».
Der Artikel strotzt vor Verdrehungen und Falschdarstellungen. Ziegler behauptet darin unter anderem, die meisten Bewohnerinnen und Bewohner von Gaza seien Flüchtlinge von 1948, «als die israelische Armee mehr als zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung vertrieb». Wenn das wahr wäre, müsste die Mehrheit der Bevölkerung Gazas älter als 75 Jahre sein, was überhaupt nicht stimmt, denn Gaza hat eine sehr junge Bevölkerung – rund die Hälfte besteht aus Kindern.
Auch die Behauptung, wonach Israel mehr als zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung vertrieben habe, stimmt nicht, zumal Ziegler die komplexen historischen Begebenheiten zum Zeitpunkt der Staatsgründung Israels komplett verschweigt. Das Massaker der Hamas verurteilt Ziegler pflichtschuldig, dies allerdings nur, um den «israelischen Staatsterror» umso heftiger anzuprangern. Er beruft sich unter anderem auf den Princeton-Professor Richard Falk, einen Antisemiten, der Israels Verhalten in Gaza mehrmals mit jenem der Nazis verglichen hat.
Zum Schluss begibt sich Ziegler in das Reich der Verschwörungstheorien, indem er Israel beschuldigt, in Gaza seit Jahren neue Waffen zu testen. Assoziationen zu dem, was radikale Aktivisten heute an Universitäten in den USA und Europa verbreiten, sind nicht zufällig: Jean Ziegler war ein Vorläufer des identitätspolitischen Wahnsinns, den mittlerweile alle, die klar denken können, als solchen erkannt haben dürften.