Der Mann, der die Bibel der BWL schrieb
Günter Wöhe
Sein Lehrbuch hat Hunderttausenden BWL-Studenten zum Diplom verholfen, obwohl er selbst nie Betriebswirtschaftslehre studiert hat. Am 2. Mai wäre Günter Wöhe, Autor des Klassikers „Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre“, 100 Jahre alt geworden. Obwohl inzwischen die Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Döring und Gerrit Brösel das Werk weiterführen, heißt der Wälzer immer noch „der Wöhe“. Er fehlt in keiner wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek und steht selbst in Zeiten digitaler Medien immer noch bei den meisten BWL-Studenten auf dem Schreibtisch. Während Skripte und Vorlesungsnotizen schnell im Altpapier landen, sobald die Prüfung bestanden ist, überlebt der Wöhe meist das Examen. Und er zieht mit um, wenn es nach dem Studienabschluss in die große weite Unternehmenswelt geht. Manche Chefs haben ihren Wöhe von damals vorsichtshalber immer noch griffbereit im Büro, damit sie notfalls rasch nachschlagen können, wie man zum Beispiel den Break-even-Point berechnet, also die Verkaufsmenge, ab der ein Produkt in die Gewinnzone kommt, oder wie sich aktive von passiven Rechnungsabgrenzungsposten unterscheiden. Studenten beherrschen solche Grundlagen im Schlaf, doch später im Berufsalltag vergessen sie diese Grundlagen mitunter.
Zwischen der Geburtsstunde des Wöhe-Buchs und der Gegenwart liegen Welten. Nicht nur die Wirtschaft und das Fach BWL, auch die gesamte Gesellschaft hat sich seither immer wieder gewandelt. Der 1924 geborene Günter Wöhe erlebte und überlebte die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den Hunger der Nachkriegsjahre. Anders als heute war die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse mit Nahrung, Kleidung oder Heizmaterial alles andere als selbstverständlich. Kein Wunder, dass die Produktion von Gütern des täglichen Bedarfs damals Priorität hatte. 1946 schrieb Wöhe sich als mittelloser Kriegsheimkehrer für ein Philosophiestudium an der Universität Würzburg ein. Nach drei Semestern wechselte er zur Volkswirtschaftslehre, machte sein VWL-Diplom und promovierte über ein volkswirtschaftliches Thema. Wie aber kam Wöhe zur BWL und zu seiner Rolle als BWL-Erfolgsautor?
Zuerst das Geld, dann der Gemeinnutz
Ulrich Döring, emeritierter Professor an der Universität Lüneburg und Wöhes Nachfolger als Autor des Erfolgslehrbuchs, erinnert sich. So gab der junge Wöhe VWL-Studenten Nachhilfe für die Diplomprüfung im Nebenfach BWL. Diese Repetitorien, mit denen Wöhe sein knappes Gehalt als wissenschaftlicher Assistent aufbesserte, wurden ein Renner und galten als verständlicher und erfolgversprechender als die damalige Literatur und sogar die Vorlesungen. 1960 entstand dann aus den Unterlagen der BWL-Repetitorien die erste Auflage der „Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre“. Das war nicht so selbstverständlich wie es in der Rückschau klingt. Schließlich dominierte damals Erich Gutenberg, der Begründer der Betriebswirtschaftslehre als eigenständiges Fach, die BWL-Literatur. Wöhe traute sich, diese monopolartige Stellung anzugreifen. Dabei setzte er – betriebswirtschaftlich gesprochen – auf seinen komparativen Konkurrenzvorteil. Der bestand darin, komplizierte Sachverhalte einfach formulieren zu können. Um den Wöhe zu lesen, reicht die Umgangssprache. Vorkenntnisse braucht man nicht, Fachbegriffe werden definiert und erklärt. Mit diesem Rezept bediente Wöhe die Marktlücke an verständlicher Lehrliteratur. Für den Erfolg haben Wöhe und dessen Familie einen hohen Preis bezahlt, erinnert sich Wöhes Schüler Döring. Wöhe schrieb auch an den Wochenenden und gern zu Hause. Wenn der Arbeitsdruck hoch war, also fast immer, schaltete er konsequent die Haustürklingel ab, damit kein Besuch die Konzentration störte.
Der Vahlen-Verlag, unter dessen Marke der Dauerbrenner immer noch erscheint, hat mittlerweile insgesamt 1,6 Millionen Exemplare verkauft und im Jahr 2023 die 28. Auflage herausgebracht. Der Marktanteil bewegt sich an der Schwelle von zwei Dritteln. Lange war der Wöhe für Vahlen der wichtigste Titel, mittlerweile ist das Verlagsprogramm aber deutlich breiter und bunter geworden. Auch der Wöhe greift immer wieder neue Themen auf, wie zuletzt das hochaktuelle Thema der Nachhaltigkeit oder der Ansprüche von Interessensgruppen gegenüber Unternehmen. Dabei geht es um die Frage, welche Rolle Unternehmen für den Umwelt- und Klimaschutz und den gesellschaftlichen Wandel, kurz den Gemeinnutz, spielen sollten. Daran aber scheiden sich die Geister in der BWL, schließlich müssen private Unternehmen zuerst Geld verdienen, um zu überleben.
Ein Muss für BWL-Studenten
Der rote Faden des Wöhe-Lehrbuchs besteht daher aus dem ökonomischen Prinzip. Es verlangt, die vom Markt gewünschten Produkte mit so geringen Kosten wie möglich herzustellen oder mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen so viele Produkte wie möglich zu erzeugen. Doch Vorsicht! Der Wöhe ist nicht nur eine nüchterne und harmlose Stoffsammlung. Er vermittelt auch ein wirtschaftswissenschaftliches Weltbild. Weil er das im Gewand eines pragmatischen Lehrbuchs tut und nicht in Form eines flammenden politischen Manifests, fällt die Programmatik kaum auf. Doch vieles, was der Wöhe als rationale Schlussfolgerung verkauft, fußt auf einem Werturteil, nämlich dem, dass Unternehmen und Unternehmer das Recht und die Pflicht haben, ihren Gewinn zu maximieren – im Rahmen der Gesetze natürlich. Nichts bringt Marxisten und Sozialethiker so auf die Palme wie diese Prämisse. Hardliner wollen den Gewinn sogar verbieten. Unternehmen sollen ihrer Meinung nach nur noch ihren Stakeholdern dienen, also Kunden, Mitarbeitern, Gläubigern und am besten der ganzen Gesellschaft. Dabei bleiben die Shareholder, also die Eigentümer, auf der Strecke. Sie aber brauchen den verpönten Gewinn als Einkommen, sonst stellen sie kein Risikokapital mehr zur Verfügung. Dann wären auch die Arbeitsplätze futsch und der gesamtgesellschaftliche Nutzen dahin. Das zeigt: Eigennutz und Gemeinnutz gehen Hand in Hand. Kein Unternehmen wird langfristig überleben, wenn es seine Kunden, Mitarbeiter und Ressourcen rücksichtslos ausbeutet. Umgekehrt wird eine Gesellschaft ihren Wohlstand verlieren, wenn sie ihren Unternehmern den Freiraum nimmt.
Der im Jahr 2007 verstorbene Wöhe hat den BWL-Nestor Gutenberg zwar als dominierenden Lehrbuchautor verdrängt. Doch vom Sockel gestoßen hat er ihn damit keineswegs. Im Gegenteil hat Wöhe das akademische Erbe Gutenbergs bewahrt, welches darin besteht, die Betriebswirtschaftslehre als eigenständiges Fach zu behaupten. Wöhes Werk hat dazu beigetragen, den Blick auf das Unternehmen als Ganzes zu lenken, wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Barbara E. Weißenberger in der F.A.Z. vom 29. April schreibt. Diese Perspektive einer „Allgemeinen BWL“ könne auch dabei helfen, die neuen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen zu meistern.
Der publizistische Erfolg des WöheLehrbuchs lässt sich als Paradebeispiel seines eigenen Inhalts lesen. So bildet die BWL als Studienfach mit den meisten Studenten eine für Autoren und Verlage attraktive Zielgruppe. Fast eine Viertelmillion junger Menschen studiert Betriebswirtschaftslehre. Weil die Studienordnungen und Prüfungen gewissermaßen zum Lernen zwingen, wird die Nachfrage institutionell untermauert. Und schließlich sind typische BWL-Studenten nicht besonders preisempfindlich, weil sie tendenziell aus finanziell soliden Haushalten kommen und/oder das Lehrbuch als lohnende Investition für ihre berufliche Zukunft sehen. Das klingt nach einem perfekten Geschäftsmodell, was es auch ist oder zumindest war. Inzwischen hat die Digitalisierung den Transfer von Wissen revolutioniert. Die Zukunft von Büchern, vor allem von Lehrbüchern, ist daher offen wie so vieles. Aber Unsicherheit gehört eben auch zur Betriebswirtschaftslehre.