«Dann drohen uns bewaffnete Bürgerwehren»
Der Schweiz fehlen Tausende Polizisten. Johanna Bundi Ryser, Präsidentin des Verbands der Polizeibeamten, kritisiert die Politik. Und warnt vor fatalen Folgen, wenn die Situation sich weiter verschärft.
19’000 Polizisten arbeiteten Anfang 2022 in den Polizeikorps von Kantonen, Städten und Gemeinden. Laut Uno sollte ein Land 300 Polizisten pro 100’000 Einwohner haben. Rechnet man das hoch, fehlen der Schweiz mehr als 7000 Polizisten.
Johanna Bundi Ryser ist Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter. Ihr sind solche Zahlenspiele zu theoretisch. Klar sei aber: Polizistinnen und Polizisten fehlen fast überall. Die, die arbeiten, laufen an der Belastungsgrenze, Ausfälle häufen sich. Im Interview spricht sie über Gründe, Lösungen und drohende Folgen des Polizistenmangels.
Frau Bundi Ryser, früher war Polizist ein Traumberuf. Wollen Kinder heute noch Polizisten werden?
Für viele ist es immer noch ein Traumberuf. Doch die Belastung und Gewalt gegen Polizisten haben klar zugenommen. Dazu kommt eine negative Haltung: In den sozialen Medien gibt es ganze Gruppen, nur um Polizisten zu filmen und vermeintliches Fehlverhalten zu dokumentieren. Und dass gewählte Politiker mit einem ACAB-Schild («All Cops are Bastards») posieren und der Polizei den Mittelfinger zeigen, hätte es früher auch nicht gegeben. Der Respekt hat abgenommen.
In der Folge fehlen schweizweit Polizisten. Was läuft schief?
Der Fachkräftemangel trifft auch die Polizei und es kommt wegen der schlechten Arbeitsbedingungen zu immer mehr Kündigungen. Stress, Überstunden und viele Bereitschaftsdienste zehren an den Kräften. Und die Politik hat teils gravierende Fehler gemacht.
«Wir warnen seit Jahren, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann.»
Welche?
Bei der Polizei zu sparen. Wir warnen seit Jahren, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann. Polizisten zu rekrutieren und auszubilden dauert über zwei Jahre, wir können nicht einfach von heute auf morgen aufstocken oder aus einem anderen Sektor rekrutieren. Wenn ein Korps einem anderen Leute abwirbt, führt das dort zu neuen Problemen. Dazu kommen immer mehr Aufgaben für die Polizei.
Sie sprechen die erhöhte Kriminalität an?
Das ist ein grosses Thema. Immer mehr Menschen bedeuten immer mehr Kriminalität. Zugewanderte, etwa aus den Maghreb-Staaten, weisen eine deutlich höhere Kriminalitätsrate auf. Wenn jemand in einer Nacht 15 Autos aufbricht und am nächsten Tag 15 Geschädigte auf der Wache stehen, die zum Beispiel nur mit drei Personen besetzt ist, beschäftigt das die ganze Wache mehrere Stunden lang. Wird einer verhaftet, braucht es oft einen Übersetzer, was das ganze Verfahren noch enorm erschwert. Das summiert sich.
«Bei einigen Politikern denke ich schon, dass sie den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben.»
Auch Gruppierungen aus Kriegsländern wie Eritrea beschäftigen die Polizei stark, weil sie ständig schauen muss, dass sie nicht aufeinander losgehen. Ich will hier niemanden stigmatisieren, aber bei einigen Politikern denke ich schon, dass sie den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben. Wir leben längst nicht mehr in einer heilen Welt. Was Politiker auch oft vergessen, ist die organisierte Kriminalität, die Mafia und die gesteigerte Terrorgefahr. Das alles bindet extrem viele Ressourcen und die Aufstockung des Personals hinkt dem deutlich hinterher.
Kann die Polizei ihre Aufgaben so noch wahrnehmen?
Schon jetzt kann die Polizei bei Bagatellfällen nicht mehr immer ausrücken. Und sie lagert Aufgaben teils an private Sicherheitsdienste aus, die zudem immer wieder ihre Kompetenzen überschreiten, wie etwa Personenkontrollen durchzuführen. Das wäre klar Auftrag der Polizei. Das mag jetzt noch harmlos klingen, doch wir verscherbeln so das Gewaltmonopol des Staates, was brandgefährlich ist.
Spitzt sich der Personalnotstand zu, wird die Polizei über kurz oder lang priorisieren müssen. Was wir auf keinen Fall wollen, ist, dass wir etwa bei schweren Straftaten die Leute am Telefon vertrösten und an einem Tatort warten lassen müssen.
«Kann die Polizei sich nicht mehr um alle Fälle kümmern, sinken das Vertrauen der Bürger und ihr Sicherheitsgefühl. Dann könnten uns bewaffnete Bürgerwehren drohen.»
Es werden sich jedoch Fragen aufdrängen, wie: «Rücken wir zuerst zu einer Schlägerei, zu einer Person, die in Not ist, oder wegen eines vermissten Kindes aus?» Das sind schwierige Entscheidungen. Kann die Polizei sich nicht mehr um alle Fälle kümmern, sinken das Vertrauen der Bürger und ihr Sicherheitsgefühl. Dann könnten uns bewaffnete Bürgerwehren drohen.
Wie weit sind wir davon noch entfernt?
Noch ist die Polizei handlungsfähig. Doch erst kürzlich habe ich aus einem Kanton gehört, dass sie in gewissen Nächten auf dem ganzen Kantonsgebiet nur noch drei Patrouillen im Einsatz haben. Jeder kann sich vorstellen, wie wenig es braucht, damit diese Kräfte nicht mehr ausreichen.
Was braucht es also?
In erster Linie muss in der Politik ein Umdenken stattfinden, damit bessere Arbeitsbedingungen geschaffen und mehr Polizisten eingestellt werden können. Weiter ist es wichtig, dass der Polizei die notwendigen Instrumente zur Verfügung gestellt werden, wie zum Beispiel die aktuell diskutierte polizeiliche Abfrageplattform POLAP.
Doch auch die Korps selber müssen an sich arbeiten, etwa an ihren Führungsstrukturen oder ihrer Fehlerkultur. Begeht ein Polizist einen Fehler, kostet das ihn unter Umständen beim ersten Vergehen den Job. Mit der Gen Z kommen Arbeitskräfte auf den Markt, die mit strikt hierarchischen Ordnungen Mühe haben. Auch die Rekrutierung muss modernisiert werden. Klimmzüge zu machen, gehört kaum zu den wichtigsten Fähigkeiten einer Polizistin oder eines Polizisten.