„Wir sind hier einfach nicht mehr“ : Unterzahl im Hinterland
Jahrelang zogen Rechte jeden Montag ungestört durch das sächsische Waldheim. Plötzlich gibt es Gegenprotest, Nachbarn stehen sich auf dem Markt gegenüber. Was macht das mit der Stadt?
Das unter Denkmalschutz stehende Rathaus in Waldheim mit seinem 56 Meter hohen Turm kann im Rahmen von Führungen besichtigt werden. Dabei kann auch der Rathausturm bis zur umlaufenden 37,5 Meter hoch liegenden Aussichtsgalerie bestiegen werden. *** The listed town hall in Waldheim with its 56 meter high tower can be visited during guided tours The town hall tower can also be climbed up to the surrounding 37.5 meter high viewing gallery
Es ist zwar schon nach 14 Uhr, aber in Waldheim gibt es noch Rippchen mit Kartoffeln und Sauerkraut. „Mittag ist eigentlich rum“, sagt der Mann hinter der Theke, „aber bei uns is noch niemand verhungert.“ Während das servierte Fleisch in brauner Bratensoße fast untergeht, wird der Inhaber des Imbisses am Markt der sächsischen Kleinstadt immer redseliger.
„Aus Berlin kommen Sie also“, stellt er fest, „einmal habe ich es unter zwei Stunden mit dem Auto nach Berlin geschafft, da bin ich 190 km/h durchgerast.“ Dann schweift er ab. Erst geht es um die hügelige Landschaft Mittelsachsens, dann das schlechte Handynetz. „Für die Telekom ist das hier Dunkeldeutschland.“ Der Laden ist fast leer und der freundliche Bistro-Besitzer hat offenbar Zeit.
Waldheim, knappe 9.300 Einwohner, Landkreis Mittelsachsen, mitten im Tal der Zschopau gelegen, die sich sehenswert durch das Zentrum schlängelt. „Perle des Zschopautals“, wirbt das Stadtmarketing und das ist nicht übertrieben. Eine pittoreske Altstadt wird dominiert vom Rathaus in Jugendstil. Drumherum warten ein Dönerladen, ein Asia-Imbiss und das Eiscafé Venezia auf Gäste. Eine sanfte Hügellandschaft umgibt den Ort. In die sächsischen Metropolen Leipzig und Dresden sind es jeweils eine knappe Autostunde, Chemnitz ist etwas näher.
Mittendrin im Freistaat, Sachsens Mitte sozuagen und das sieht man der Stadt an. Am Ortseingang kleben Sticker des Chemnitzer FC auf einem Straßenschild, der Stromkasten im Zentrum erleuchtet im typischen Dynamo-Gelb und neben dem kleinen Bahnhof prangt ein großes Graffiti von Lok Leipzig. Waldheim, das ist umkämpftes Gebiet.
Doch nicht nur ostdeutsche Traditionsvereine kämpfen um die Vorherrschaft in der Kleinstadt, sondern auch Cindy Reimer und Ocean Hale Meißner. Beide kommen aus der Gegend, sind hier aufgewachsen, kennen sich aber erst seit einigen Wochen. An einem Montagnachmittag Mitte Februar sitzen sie zusammen an einem großen Holztisch in Reimers Küche in einem umgebauten Bauernhaus, wenige Minuten vom Zentrum Waldheims entfernt.
Auf dem Tisch liegt ein Buch von Gregor Gysi, auf dem Boden Rembrandt, der ungestüme Cocker Spaniel, der es nur schwer aushält, nicht die volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Im Hintergrund knistert der Kamin. Der Blick aus dem Fenster eröffnet die Perspektive auf friedlich daliegende Felder und Wiesen, die langsam in der ansetzenden Dämmerung versinken. Es ist gemütlich.
Dass Reimer und Meißner jetzt, an diesem Montagnachmittag, zusammen an einem Tisch sitzen, hat letzten Endes vor allem mit einem Treffen im fernen Potsdam zu tun, dessen Gesprächsinhalt durch einen Bericht des Recherchenetzwerks „Correctiv“ öffentlich geworden ist.
Das erste Entsetzen über das rechte Get-together in der „Villa Adlon“ schlug bei den beiden schnell in den Impuls um, „etwas tun zu müssen“ und so gründeten sie mit weiteren Mitstreitern die „Die bunten Perlen Waldheim“. Das Ziel: auf der einen Seite schlicht die Demokratie verteidigen. Auf der anderen, der rechten Melange aus Freien Sachsen und AfD die Stirn bieten, die seit Jahren mit ihren montäglichen „Spaziergängen“ ein Monopol auf Waldheims Straßen haben. Oder wie Reimer es ausdrückt: „Seit drei Jahren laufen die Nazis hier unangemeldet und niemanden stört es“.
Die 32-Jährige arbeitet als Kirchenmalerin, ist voll tätowiert und hat in Berlin, Zwickau, auf Norderney und in München gelebt, bevor sie in die sächsische Provinz zurückkehrte. „Wo hast du Mittag gegessen?“, will sie gleich zu Beginn wissen. Als sie von den Rippchen am Marktplatz erfährt, ist sie nicht zufrieden. „Der Typ ist nett, aber lief in der Vergangenheit immer wieder bei den Rechten“, sagt Reimer. „Wir gehen da nicht mehr essen, obwohl es ganz lecker ist.“
Der sympathische Bistro-Besitzer am Waldheimer Markt steht für ein Dilemma, dass die Großstadt nicht kennt. Wie reagiert man, wenn der Nachbar, die Bäckerin oder der Blumenhändler „drüben“ auf der einen oder eben der anderen Seite mitläuft? „Tja“, sagt Cindy Reimer, „Waldheim ist zwar klein, aber groß genug, dass wir alles mindestens zweimal haben. Zwei Bäcker, zwei Friseure zwei Imbisse.“
Überall im Land lösten die in Potsdam besprochenen „Remigrations“-Fantasien neben Fassungslosigkeit und Schock, auch ganz besondere Motivationsschübe aus. Während in den Großstädten der Republik Hunderttausende gegen die AfD auf die Straße gingen, gründeten sich in den vergangenen Wochen in der Provinz neue Organisationen, Bündnisse und Initiativen, um sich zu vernetzten und gemeinsam zu mobilisieren. „Die bunten Perlen“ in Waldheim sind ein Produkt dieser Zeit.
Und sie bekommen Aufmerksamkeit. Das liegt auch an einem Beitrag, den Reimer und Meißner Anfang Februar auf dem neu errichteten Konto der „bunten Perlen“ auf Instagram teilen. „Großstadt ignorant. Don’t forget your Hinterland!“, ist im Titel zu lesen. Der Beitrag beginnt mit dem Satz „Wir sind enttäuscht und fühlen uns alleingelassen.“ Den Montag zuvor waren sie trotz umfangreicher Mobilisierung, angekündigter Unterstützung aus Dresden und Leipzig und Berichten in der Lokalpresse wieder weniger als die andere Seite. 250 „Demokrat:innen“ gegen „300 Anti-Demokrat:innen“, heißt es in dem Beitrag.
„Ich war mega gehyped, weil das Feedback wirklich gut war. Und dann sind aus dem Zug acht Leute ausgestiegen. Und ich stand am Bahnhof und dachte, da müssen doch noch mehr Menschen aussteigen. Aber es kam niemand mehr“, fasst Aktivist Meißner die Situation des vergangenen Montags zusammen. Er klingt ernüchtert.
Reimer geht noch weiter. „Wir sind hier nicht mehr. Das ist die traurige Wahrheit“, sagt sie. Man sei auf Unterstützung von außerhalb angewiesen. Zwar seien die demokratischen Parteien alle zusammengezählt gerade noch in der Überzahl, aber viele Menschen gehen nicht auf die Straße. Nur die wenigsten trauen sich, sich zu positionieren, sagt Reimer. „Das ist das Problem.“
Wenn man den beiden Sachsen weiter zuhört, dann bekommt man einen Eindruck davon, warum es etwas anderes ist, statt im Berliner Regierungsviertel, auf dem Waldheimer Markt gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Ocean Hale Meißner stammt aus dem nahen Döbeln. Einst verschrien als NPD-Nest, fand in der Kreisstadt 2022 der erste CSD Mittelsachsens statt. Initiiert von Meißner, der sich seit Jahren für die queere Community in der sächsischen Provinz starkmacht.
„Es gab Anschläge mit Buttersäure, unsere Teilnehmer wurden mit Steinen beworfen, es wurden Regenbogenflaggen verbrannt“, erzählt Meißner. Die NPD demonstrierte in Form eines Gegenprotests gegen den Provinz-CSD. Der Slogan der Rechtsextremisten: „Aus Anne wird Frank – das ist ja krank.“
Jahrelang sei es in der Region relativ ruhig gewesen, auch weil viele rechte Gewalttäter ihre Hafstrafen absaßen, doch nun drehe sich der Wind erneut, die „rechte Gewalt kocht wieder hoch“, sagt der Döbelner. „Das jetzt ist die Kindergeneration der Neonazis aus den 90ern, die nächste, nachwachsende Generation.“
Meißner berichtet, wie er vor anderthalb Wochen mit Freunden vor einem alternativen Jugendclub in Döbeln eine Zigarette rauchte, als aus einem vorbeifahrenden Autokorso der Freien Sachsen plötzlich ein Polenböller auf sie flog und vor ihren Füßen explodierte. Wie ein Bekannter vor ein paar Monaten in einem Döbelner Club zusammengeschlagen wurde, nur weil er ein buntes Hemd trug. Und wie er mittlerweile fast routiniert, wenn er im Dunkeln durch seine Heimatstadt fährt, als Erstes die Zentralverrieglung seines Autos einschaltet. „Man weiß nie“, sagt Meißner.
In Reimers Küche wird es langsam hektisch, ihre Rede muss noch ausgedruckt werden. In weniger als einer Stunde beginnt die Versammlung der „bunten Perlen“ auf dem Waldheimer Obermarkt. Wie viele es heute werden? „Ich denke, etwas mehr als letzte Woche, aber die Masse wird es nicht“, sagt Meißner und denkt laut nach. „In Dresden ist heute etwas, in Leipzig-Möckern auch.“ Linker Aktivismus in Sachsen ist ein Full-Time-Job. Theoretisch könnte man täglich auf die Straße gehen, denn die Gegenseite ist aktiv. AfD hier, Freie Sachsen da, dazu kommen zahlreichen rechtsextremen Splittergruppierungen, Reichsbürger und völkische Siedler.
„Ich verstehe auch, dass es Personen gibt, die gerade den Mut nicht aufbringen können, zu unseren Demos zu kommen“, sagt Meißner. „Wenn man als Waldheimer auf einmal seinen Nachbarn gegenübersteht. Als Geschäftsmann, der sich Sorgen um Umsatzeinbußen macht. Es gibt genug Gründe.“
Genau deswegen sei es so wichtig, dass Leute aus der Großstadt kommen, stellt Reimers fest. „Wir brauchen die vorrangig nicht, um mehr zu sein“, es ginge letztlich auch um eine Schutz-Funktion. „Je mehr Leute wir auf dem Markt sind, desto mehr Menschen trauen sich auch aus der Region. Sie gehen in der Masse unter, sind geschützter.“
Der Waldheimer Obermarkt kurz vor 18 Uhr an diesem Montag. Reimer und Meißner bauen mit ihren Mitstreitern die Technik auf, der Ablaufplan für die Kundgebung wird evaluiert, in einer halben Stunde soll es losgehen. Es ist Mitte Februar und im Hintergrund zwitschern tatsächlich Vögel. Auch in Waldheim ist es viel zu warm für diese Jahreszeit. Rund um den Markt hat sich Bereitschaftspolizei aus Chemnitz positioniert. Die Beamten sind vor allem für die Trennung der unterschiedlichen politischen Lager zuständig.
Eine Frau läuft kopfschüttelnd über den noch leeren Mark. „Nur noch Verrückte hier, ihr seid alle verrückt“, sagt sie in die Richtung von Meißner und Reimer. „Ja, ja, komm, lauf weiter“, sagt Reimer. Dann räumt das Eiscafé Venezia die große Plastik-Eiswaffel ins Innere. Der Zeiger der Rathausuhr steht auf Punkt 18:30 Uhr. Es geht los. Der Platz füllt sich. Das Teilnehmerfeld ist überraschend gemischt, Jung und Alt gemeinsam auf der Straße.
Aus einer kleinen Gasse hinter dem Markt strömen immer mehr Menschen. Die einen biegen links ab zu den „bunten Perlen“, die anderen nach rechts, wo die AfD ihren eigenen Lautsprecher mittlerweile auch in Gang bekommen hat. Bei den Rechten gibt es an diesem Rosenmontag Pfannkuchen, die deutsche Nationalhymne aus der Konserve und „Thor Steinar“-Jacken im Publikum. Auch hier sind Jung und Alt zu sehen, aber die Stimmung ist weniger gelöst. „Die das drüben, werden rangekarrt und meinen uns, seit drei Wochen beschimpfen zu müssen“, sagt ein Redner.
Die „Spaziergänger“ hadern mit der neuen montäglichen Szenerie. Das merkt man. Drei Jahre, seit Corona, liefen sie ungestört trötend und hupend durch die Stadt. Einige Waldheimer Bürger fühlten sich zwar immer wieder mal durch die Geräuschkulisse des rechten Protests gestört, sonst blieben lautstarke Widerworte aber aus. Die montäglichen Proteste fanden stets unangemeldet statt, 73 Anzeigen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz registrierte die Chemnitzer Polizeidirektion in den vergangenen drei Jahren, teilt sie auf Anfrage mit. Seit die „bunten Perlen“ demonstrieren, müssen nun auch die Rechten anmelden.
Es gibt noch eine dritte Gruppe auf dem Waldheimer Markt an diesem Montagabend. Sechs, sieben Jugendliche stehen zwischen den Fronten, nicht rechts, aber auch nicht links. Exakt in der Mitte, zwischen den beiden Versammlungen auf dem Markt, lehnen sie an einer Hauswand und beobachten rauchend die Szenerie. Als der Zug der „Freien Sachsen“ vorbeizieht, grüßen sie freundlich mehrere Teilnehmer.