Repression in Russland: Zweieinhalb Jahre Lagerhaft für Oleg Orlow

repression in russland: zweieinhalb jahre lagerhaft für oleg orlow

Friedensnobelpreisträger Oleg Orlow steht am 27. Februar 2024 mit Handschellen im Gerichtssaal.

Er bereue nichts, sagte Oleg Orlow am Ende seines Schlussworts am Montag vor Gericht. Eine Tasche mit seinen Sachen hatte er schon mitgebracht. Denn der Leiter des von Russlands Staatsmacht für aufgelöst erklärten Rechtsschutzzentrums der Bewegung Memorial musste damit rechnen, gleich nach einem Schuldspruch festgenommen zu werden.

Doch am Montag wurden nur die Schlussplädoyers gehalten, wobei die Anklage zwei Jahre und elf Monate Haft wegen „wiederholter Diskreditierung“ der russischen Streitkräfte forderte. Danach scherzte Orlow, es sei wie bei einer Katze, deren Schwanz nicht auf einmal, sondern Stück für Stück abgehackt werde. „Morgen werden sie ihn ganz abhacken.“ Am Dienstagvormittag verurteilte das Golowinskij-Bezirksgericht im Nordwesten von Moskau den Siebzigjährigen dann zu zweieinhalb Jahren Straflager, er wurde abgeführt.

Anlass für die Verfolgung des erfahrenen Menschenrechtsschützers, der selbst ein Opfer der Repression geworden ist, war ein Artikel. Orlow veröffentlichte ihn zunächst im November 2022 auf dem französischen Portal „Mediapart“ und dann auf Russisch auf Facebook. „Das Land, das vor dreißig Jahren den kommunistischen Totalitarismus hinter sich gelassen hat, ist in den Totalitarismus zurückgefallen, aber diesmal in den faschistischen“, schrieb er darin. Dafür verantwortlich seien Präsident Wladimir Putin, aber auch dessen Helfer und „die finstersten Kräfte in meinem Land, jene, die von einer vollständigen Revanche für den Zerfall des sowjetischen Imperiums träumten“.

Orlow war schon zuvor belangt worden

Weil Orlow zuvor schon zweimal wegen Einzelmahnwachen gegen den Krieg belangt worden war, soll seine Meinungsäußerung eine „wiederholte Diskreditierung“ der Armee darstellen. Bis zu drei Jahre Haft sind bei diesem kurz nach dem Überfall auf die Ukraine vor zwei Jahren eingeführten Zensurtatbestand vorgesehen. Im vergangenen Oktober verurteilte das Gericht Orlow zunächst zu einer Geldstrafe von umgerechnet gut 1400 Euro. „Lediglich“ muss man nach Russlands derzeitigen drakonischen Maßstäben anfügen, in denen Kriegsgegner oft lange Haftstrafen erhalten. Nicht nur die Staatsanwaltschaft, auch Orlow legte Rechtsmittel ein, da das Urteil seine – nach wie vor in der russischen Verfassung garantierte – Meinungsäußerungsfreiheit verletze. Er blieb gegen Auflagen auf freiem Fuß und äußerte sich weiter, für politische Gefangene, gegen Krieg und Verfolgung.

Die Staatsanwaltschaft führte nun im neuen Verfahren auf Grundlage eines „linguistischen Gutachten“ das Motiv „der Feindschaft und des Hasses“ ein: „auf traditionelle russische geistlich-sittliche und patriotische Werte“sowie „auf Soldaten“. Dabei hatte sich Orlow unter zahlreichen Opfern von Gewalt und Willkür durch die Sicherheitskräfte auch für Soldaten eingesetzt. So half er während des ersten Tschetschenienkriegs Mitte der Neunzigerjahre, gefangene Soldaten durch Verhandlungen zu befreien, und begab sich anstelle von Geiseln selbst in die Gewalt der Aufständischen. Zu Orlows Ächtung durch die Staatsmacht gehört jetzt, dass ihn das Justizministerium Anfang Februar auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt hat. Kurz darauf schmierten regimetreue Aktivisten ein Z-Kriegssymbol an seine Tür.

Orlow las Kafka im Gericht

Während der neuen Verhandlungen vor Gericht las Orlow demonstrativ Franz Kafkas „Prozess“ und ließ seine Verteidigerin reden. Doch von seinem Recht auf ein Schlusswort machte er Gebrauch. Darin erinnerte er an den „Tod von, genauer, den Mord an“ Alexej Nawalnyj und an die „Justizabrechnung mit anderen Regimekritikern“. In dem Artikel, der ihm vorgeworfen wurde, habe er „nichts übertrieben“. Orlow erinnerte an das Schicksal anerkannter politischer Gefangener und Kriegsgegner wie Wladimir Kara-Mursa und Alexej Gorinow, die derzeit in Haft unter harten Bedingungen „langsam getötet werden“.

Er zitierte Nawalnyjs Aufruf, nicht aufzugeben. „Diejenigen, die unser Land in den Abgrund geführt haben, in dem es sich jetzt befindet, repräsentieren das Alte, das Verfallene, das Überholte“, fügte Orlow hinzu. „Sie haben kein Bild von der Zukunft – nur falsche Bilder von der Vergangenheit, Trugbilder ‚imperialer Größe‘“, fuhr er fort. „Aber wir leben im 21. Jahrhundert, uns gehören Gegenwart und Zukunft, und das ist der Schlüssel zu unserem Sieg.“

Orlow fragte seine Richterin, Jelena Astachowa, ob sie sich nicht fürchte: „Liegt es nicht auf der Hand, dass die Walze der Unterdrückung früher oder später diejenigen überrollt, die sie ausgelöst und vorangetrieben haben? Das ist in der Geschichte schon viele Male passiert.“ Dabei war ihm klar, dass Astachowa ihn schuldig sprechen würde. „Denn unter gegenwärtigen Bedingungen ist der Freispruch von einer solchen Anklage unmöglich“.

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