Winfried Nerdinger: „Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert“. Geschichte, Gesellschaft, Funktionen.
Gegen die Kulturgeschichtsschreibung hatte Walter Benjamin eine große Abneigung: „Sie vermehrt wohl die Last der Schätze auf dem Rücken der Menschheit. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen.“ In diesem Sinne haben viele neuere Architekturhistoriker versucht, Ballast abzuwerfen, um Wissensbestände nicht nur für die Archive zu historisieren, sondern für den künftigen Gebrauch zu aktualisieren.
Aus dieser Fortschrittskarawane schert Winfried Nerdinger mit seiner „Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert“ entschlossen aus. Der Münchner Architekturhistoriker verbreitet keine prospektiven Heldengeschichten, sondern trägt retrospektiv gewaltige Materialberge zusammen, um mittels einer dezidiert sozialhistorischen Perspektive die Architektur nicht mehr nur ästhetisch, sondern als moralische Disziplin zu vermessen. Denn die Moderne sei „keine Einbahnstraße zur Freiheit“, sondern trage ein „Doppelgesicht“ aus technischer Rationalisierung und Social Engineering, das stets „Demokratien wie auch Diktaturen“ diente.
Wohnhäuser von Bruno Taut in Pankow
Der Autor beginnt hochgestimmt mit der Blütezeit des Wilhelminismus 1890, als neue Baustoffe und Konstruktionen die Formgebung umwälzten, die Immobilien- und Kapitalmärkte aufdrehten und auch Arbeiterorganisationen nicht mehr verboten waren. Eine Hauptrolle spielte die Herausbildung privaten Grundeigentums infolge des preußischen Landrechts von 1794. Darauf baute das Deutsche Reich auf: auf dem städtischen Bürgertum, das mit seinen selbstverwalteten Kommunen zu Vorreitern der Modernisierung wurde.
Neubauten 1958 im Dresdner Stadtteil Striesen
Verwaltungs- und Justizpaläste
Mehr als auf Künstler fokussiert Nerdinger auf die selbst bauenden Stadtbauräte wie Ludwig Hoffmann in Berlin, Hans Grässel in München, Hans Erlwein in Dresden, Hugo Licht in Leipzig oder Fritz Schumacher in Hamburg als „die ungekrönten Könige der Architektur im Kaiserreich“. Während der preußische Staat zur Architekturblüte lediglich Paul Wallots Reichstagsgebäude beisteuerte, schuf der entstehende Länderföderalismus gewaltige Verwaltungs- und Justizpaläste als „Monumente des bürgerlichen Verfassungsstaats“.
Noch ehrgeiziger bauten die Städte neben Versorgungsbetrieben, Schulen, Krankenhäusern und Theatern bis 1914 insgesamt 120 Rathäuser, die so groß wie Nationalparlamente waren und in denen der Architekturhistoriker Julius Posener einst das „wilhelminische Lächeln einer wohlwollenden Autorität“ erkannte.
Während der Kaiser auf der Weltausstellung in St. Louis 1904 Preußen durch einen Nachbau des Schlosses Charlottenburg präsentierte, entstand der neue Stil der Sezessionskünstler aus Lebensreform und Jugendstil fernab von Berlin in Darmstadt, Düsseldorf, München und Weimar.
Hier stellt der Autor vor allem den Belgier Henry van de Velde sowie die Österreicher Otto Wagner und Joseph Maria Olbrich heraus, während er Ausnahmekünstler wie Bruno Paul, August Endell oder Hermann Obrist nur streift. In Friedrich Naumanns Kampfansage, die „Werkbund“-Kunstgewerbeform 1908 sei das Pendant zur deutschen Flottenpolitik, sah der Wiener Architekt Adolf Loos bereits „das deutsche Produzentenjunkertum der Welt seinen Formwillen aufzwingen“.
Ein Kollege wird gescholten
Leider vermag Nerdinger das überschießende Monumentale nach 1900 nicht zu erklären, das nicht nur die Bismarck-Denkmäler prägte, sondern auch die Festhallen in Frankfurt am Main und Breslau, die Museen von Halle und Mannheim oder die AEG-Maschinenhallen von Peter Behrens. Den späteren Expressionismus von Höger, Poelzig oder Mendelsohn beschreibt er nur floskelhaft als „gotische Inspiration“ oder „gebaute Bewegung“.
Derjenige, der auf grandiose Weise diese frühe Blütezeit der deutschen Architektur beschrieben hatte, war der kürzlich gestorbene Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt. Dessen vergleichbar großes, überaus sprachmächtiges Standardwerk „Deutsche Architektur seit 1900“ hatte Nerdinger schon bei Erscheinen 2006 verrissen: Pehnt geriere sich als „auktorialer Erzähler“, liefere nur „amüsante Häppchenkultur“, sei „wissenschaftlich fragwürdig“ wegen „mangelnder Reflexion“ sowie „fehlender Begriffe und Strukturen“.
Der Leser traut seinen Augen nicht, dass im vorliegenden Buch fast zwanzig Jahre später diese Schmähkritik kurz, aber heftig wieder auftaucht und der Pionier Pehnt abermals als bloßer „Popularisierer“ des Expressionismus gescholten wird, „der unter diesem Schlagwort völlig unterschiedliche Bestrebungen zusammenfasste“.
Militärische Anstöße
Wer so heftig austeilt, sollte kein Glaskinn haben, sondern auch einstecken können. So liest man Nerdingers selbstgerechte Urteilsstrenge fortan skeptischer. Gerade noch hatte er den Munizipalsozialismus des grundbesitzenden Bürgertums gelobt, da sieht er nun die kommunale Planungshoheit zur unerbittlichen Ausbeutung der Städte durch Kapital und Spekulation führen.
Dem Militarismus vor 1914 spürt er bis in die Kriegsbegeisterung der Architekten nach, die er fortan ins Herz der Finsternis von Rüstungs- und Kriegswirtschaft rückt. Dabei folgt Nerdinger einem entfesselten Gewalt- und Technikdeterminismus und erklärt konsequent das Militärische zum „Motor für die Rationalisierung des Bauens“. In der Vorfertigung und maschinellen Bauherstellung nach 1920, die alle Traditionen anthropomorpher Architekturgestaltung verdrängte, sieht der Autor „einen der gravierendsten Einschnitte in der Architekturgeschichte“. Aus Fertigteilen montierte Tempel gab es freilich schon im Altertum.
Den Umbruch der Weimarer Bauhaus-Schule vom mittelalterlichen Bauhüttenideal zum Hauptquartier des Neuen Bauens führt der Autor einseitig auf die Einflüsse der holländischen De-Stijl-Bewegung zurück, obwohl der technokratische Bauhaus-Direktor Hannes Meyer radikale Schweizer Sachlichkeit mitbrachte. In den Sozialsiedlungen nach 1920 sieht Nerdinger, wie der Versuch, Architektur zur Erziehung neuer menschlicher Kollektivwesen zu nutzen, schließlich nur der „Ästhetisierung der ökonomischen Zweckform“ dient.
Kontinuitäten nach 1945
Bei der Kriegsvorbereitung und Eroberungspolitik nach 1933 agieren die gleichgeschalteten Architekten und Ingenieure in einer „Mischung aus Wegschauen, Anbiederung, Auftragssuche und Mitmachenwollen“ und werden zu „willigen Ausstattern und Dekorateuren des NS-Staats“.
Verdienstvollerweise räumt der Autor mit ihrer Ausrede auf, sie seien vor der brutalen Repräsentationsarchitektur in den neutralen Industriebau geflüchtet. In Wahrheit hätten Rüstungs- und Industriebetriebe mehr als siebzig Prozent der NS-Bauwirtschaft ausgemacht, bei deren funktional-moderner Gestaltung die Architekten sogar zur Kriegsverlängerung beitrugen.
Während Nerdinger einst den Recherchen von Werner Durth über die Kontinuität von NS-Architekten und deren Leitbildern nach 1945 widersprochen hatte, stellt er jetzt Stadtverwaltungen und NS-Seilschaften von Düsseldorf bis Westerland an den Pranger und die Hochschulen von Darmstadt bis Braunschweig gleich dazu.
In der Systemkonkurrenz nach 1949 fällt die Geschichtsentsorgung durch Flächenabrisse in beiden deutschen Staaten gleichermaßen brutal aus. Dabei führt der Autor die gerasterte Monotonie der DDR-Moderne auf Moskauer Dekrete zurück, während er im Westen zutreffend das Industriebau-Erbe der ehemaligen NS-Planer fortleben sieht, die ihr vermeintlich nicht kompromittiertes Konstruktions- und Funktionsdenken nach dem Krieg für veritable Städteschlachtungen einsetzten.
Fundamentalkritik am Berufsstand
Je näher das unter ständigen Vorgriffen und Wiederholungen leidende und nur mit graustichigen Miniaturen bebilderte Buch der Gegenwart kommt, desto schärfer wird Nerdingers Fundamentalkritik am gesamten Berufsstand. In Bauwettbewerben sieht er nur „Mauscheleien“, „Manipulationen“ und “intransparente Abläufe“. Architektur verfügt für ihn „über keine begrifflich fundierte Theorie, keine präzise definierten Begriffe und keine objektivierbaren Maßstäbe“.
Die Wiedervereinigung begreift er nur als „Kolonialisierung der DDR“, bei der die BRD-Bauwirtschaft die Ost-Städte mit „kontextlosen Markenzeichen“ besetzte und auf dem Potsdamer Platz in Berlin „unter dem Diktat von Kapital- und Gewinnmaximierung eine reine Investorenarchitektur“ errichtete. Das neue Berliner Stadtschloss lehnt er als „pompöse Repräsentationsarchitektur“ ab, und im spätexpressionistischen Kanzleramt von Schultes und Frank erkennt er bloß „eine mächtige betonierte Festung als neuer teutonischer Machtanspruch“.
Dem Anliegen historischer Aufklärung genügt diese anachronistische Skandalchronik vergangener Kulturkämpfe nicht. Was am Ende vor Nerdingers Urteil besteht, sind nur einzelne Bauten der sogenannten Greisenmoderne: Siedlungen von Bruno Taut, Schulen von Hans Scharoun, Flächentragwerke von Frei Otto, Fernsehtürme von Fritz Leonhardt, Bildungsbauten von Fehling und Gogel und die Internationale Bauausstellung Emscher Park im Ruhrgebiet. Selten hat ein Autor sich so viel Last aufgeladen, um mit so wenig durchs Ziel zu gehen.
Winfried Nerdinger: „Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert“. Geschichte, Gesellschaft, Funktionen. C.H. Beck Verlag, München 2023. 816 S., Abb., geb., 49,90 Euro.
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