Sie passte einfach in kein Kästchen: Das bewegende Leben der Charlotte von Mahlsdorf

Sie lebte ein Leben, das ihrer Zeit weit voraus war: Charlotte von Mahlsdorfs Geschichte spiegelt auch die Berlins wider. Jetzt ist ihre Autobiografie neu aufgelegt worden.

sie passte einfach in kein kästchen: das bewegende leben der charlotte von mahlsdorf

Charlotte von Mahlsdorf 1992 in ihrem Gründerzeitmuseum

Fast ganz am Ende ihrer Autobiografie schreibt Charlotte von Mahlsdorf einen Satz, der ihr Leben vielleicht am treffendsten beschreibt: „Schon zu DDR-Zeiten passte ich in kein Kästchen, und selbst heute noch bin ich für manche eine schräge Figur.“ Wer die – 1992 erstmals erschienene und vom Berliner Jaron Verlag jetzt neu aufgelegte – Lebensgeschichte von Charlotte von Mahlsdorf liest, wird schnell verstehen können, wie ungewöhnlich und unkonventionell dieses Leben gewesen sein muss.

Charlotte von Mahlsdorf wird 1928 in Berlin geboren, damals trägt sie noch den Nachnamen Berfelde, den sie später gegen ihren Künstlernamen von Mahlsdorf eintauschen sollte. Ihre Kindheit und Jugend wird von einem gewalttätigen Vater geprägt, der die Familie drangsaliert. „Ein Junge weint nicht“, bekommt sie nicht nur einmal zu hören.

Als sie sieben Jahre alt ist, ertappt der Vater sie in den Kleidern ihrer Mutter und brüllt: „Du bist kein Mädchen, du sollst einmal Soldat werden.“ Doch Charlotte will kein Soldat werden, stattdessen stellt sie schon sehr früh im Leben fest, dass sie kein typischer Junge ist – „Ich bin ein kleines Mädchen“, schreibt sie an einer Stelle.

Statt Hosen zu tragen und Fußball zu spielen, träumt Charlotte davon, Dienstmädchen und Hausfrau zu sein, denn am liebsten trägt sie Schürze. Es ist erstaunlich – angesichts der Zeit, in der Charlotte gelebt hat – wie unterstützend ein Teil ihres Umfeldes mit ihren Wünschen umgeht. Mit ihrem Großonkel geht sie eine Mädchenschürze kaufen, weil es für Jungen keine gab, und aus der Bibliothek ihrer Tante Luise leiht sie sich das Buch „Die Transvestiten“ von Magnus Hirschfeld aus, das eine wichtige Rolle bei ihrer Selbstfindung spielen sollte.

Als Charlotte von Mahlsdorf 16 Jahre alt ist, befreit sie sich von der Quälerei ihres Vaters, indem sie ihn mit einem Nudelholz erschlägt. Sie wird zu vier Jahren Haft verurteilt. Erst als der Krieg 1945 zu Ende ist, wird sie entlassen und kommt auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Mahlsdorf.

Dort übernimmt sie das Gutshaus, das damals noch eine Ruine gewesen ist und baut es eigenhändig wieder auf. Um die Zimmer einrichten zu können, zieht Charlotte von Mahlsdorf durch das Nachkriegsberlin und rettet Türklinken, Stuckrosetten, Möbel, Vasen und den einen oder anderen Ofen aus Häusern, die abgerissen werden sollen.

Durch die langsam wachsende Sammlung entsteht schließlich das Gründerzeitmuseum. Die Sammelleidenschaft war etwas, das sie schon ihr ganzes Leben begleitet hatte: „Mein Bestreben, zu bewahren, ist stärker als alles andere“, erklärt sie. Einen großen Teil der Möbel, die auch heutzutage noch im Gründerzeitmuseum stehen, hat Charlotte bereits als junges Mädchen gesammelt.

Später arbeitet sie dann als Konservatorin im Märkischen Museum, doch als sie zu einem feierlichen Anlass in einem Kleid erscheint, wird ihr Honorarvertrag nicht mehr verlängert. Trotz dieser Erfahrungen lebte Charlotte von Mahlsdorf ihr Leben als Frau immer mit einer großen Selbstverständlichkeit.

Die Lebensgeschichte von Charlotte von Mahlsdorf ist gleichzeitig auch eine historische Erzählung der Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert: von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, über die kargen Nachkriegsjahre, bis hin zum Leben in der DDR, das geprägt ist von der ständigen Angst vor der Enteignung und dem Verlust des Gutshauses.

Die Teilung der Stadt führt schließlich dazu, dass Charlotte von Mahlsdorf fortan abgeschnitten ist von vielen ihrer schwulen und lesbischen Freund*innen, von denen sie manche nie mehr wiedersehen sollte. Als nach dem Ende der DDR das Gelände des Gutshauses von Neonazis überfallen wird, beschließt Charlotte von Mahlsdorf, Deutschland den Rücken zu kehren.

Die Autobiografie von Charlotte von Mahlsdorf ist sehr bewegend. Es ist vor allem die Selbstverständlichkeit, die beeindruckt: trotz aller Widrigkeiten lebt sie ein Leben, das ihrer Zeit weit voraus gewesen ist. Sie schlüpft in Schürzen, Kleider und Damenmäntel und lebt ihr Leben als Frau mit großer Neugier, Offenheit und Hartnäckigkeit.

Interessanterweise benutzt Charlotte von Mahlsdorf das Wort trans nicht ein einziges Mal in ihrem Buch, stattdessen bezeichnet sie sich als Transvestit – aber auch immer wieder als Frau, als Mädchen oder als weibliches Wesen. Deutlich wird dabei, dass wir dreißig Jahre nach der Veröffentlichung des Buches, viel mehr Worte haben, um unsere Geschlechtsidentitäten beschreiben zu können.

Vielleicht waren es aber auch gar nicht die Worte, die Charlotte von Mahlsdorf fehlten, wahrscheinlich hat sie sich tatsächlich nicht als trans verstanden – weil sie einfach in kein Kästchen passt. Vielleicht braucht es ein eigenes Charlotte-von-Mahlsdorf-Kästchen, um ihrer Lebensgeschichte gerecht werden zu können.

Dennoch kann auch die heutige Generation trans Menschen noch viel von Charlotte von Mahlsdorf lernen. „Ich bin meine eigene Frau“ ist eine bewegende, berührende, kluge und mutige Lebensgeschichte, die aktueller denn je ist – und die Fragen aufwirft, etwa: Leben wir heutzutage in einer Gesellschaft, die für die Selbstverständlichkeit einer Charlotte von Mahlsdorf bereit wäre? Es ist nicht sicher, ob das mit Ja beantwortet werden kann. Umso wichtiger ist dieses Buch!

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