Indien: tödliche Arbeitsplätze in der Industrie

Indien will ein Industriestandort mit globaler Bedeutung werden. Aber auch Rechtsreformen verringern die hohe Zahl tödlicher Arbeitsunfälle nach Ansicht von Experten nicht.

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Brand in der Elektronikfabrik im Stadtteil Mundka in Neu Delhi, Mai 2022

Immer noch wird Ismail Khan von Albträumen geplagt. Seine jüngere Schwester Muksan, damals gerade 21 Jahre alt, gehörte zu jenen 27 Menschen, die im Mai 2022 starben, als eine vierstöckige Elektronikfabrik im Stadtteil Mundka in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi in Flammen aufging.

Muksan hatte damals seit zwei Jahren in dem Unternehmen gearbeitet. Mit ihrem Einkommen ernährte sie fünf Familienmitglieder. Noch immer wacht Ismail in manchen Nächten schreiend auf, seine Schwester vor Augen, die den Flammen zu entkommen versucht.

Verantwortlich für das Unglück sind aus Ismails Sicht die Besitzer der Fabrik. “Meine Schwester hätte fliehen und das Feuer überleben können, doch es gab keinen Notausgang. Der einzige verfügbare Ausgang war durch Kisten blockiert”, sagt er im Gespräch mit der DW.

Ismail und die Familienangehörigen der anderen Opfer haben die Elektronikfabrik verklagt.

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Prekäre Arbeitsbedingungen. Blick in eine Fabrik, in der Elektroschrott recycelt wird

Jährlich Tausende Tote und Verletzte

Die Working People’s Coalition, ein Zusammenschluss von Organisationen, die sich mit arbeitsrechtlichen Fragen beschäftigen, hob in ihrem Untersuchungsbericht hervor, dass die Fabrik ohne Genehmigung der Brandschutzbehörde betrieben worden sei – wegen einer Reihe von Sicherheits- und Arbeitsschutzverstößen.

Nitin Ahlawat, der Anwalt der Fabrikbesitzer, weist die Vorwürfe zurück. “Es handelt sich um einen durch einen elektrischen Kurzschluss verursachten Unfall”, sagt er im Gespräch mit der DW. Von einem blockierten Notausgang wisse er nichts. Zudem sei Fall noch nicht abgeschlossen.

Jedes Jahr werden in Indien Tausende Menschen durch Arbeitsunfälle getötet oder verletzt. Aus Statistiken der Regierung geht hervor, dass in den Fabriken des Landes jeden Tag durchschnittlich drei Arbeiter aufgrund fehlender grundlegender Sicherheitsmaßnahmen zu Tode kommen. Im Jahr 2021 teilte das Arbeitsministerium auf eine Parlamentsanfrage mit, dass in den vorangegangenen fünf Jahren mindestens 6.500 Beschäftigte bei der Arbeit in Fabriken, Häfen, Bergwerken und auf Baustellen ums Leben gekommen seien. Arbeiteraktivisten und Gewerkschaften gehen davon aus, dass die Zahl noch höher sein könnte, da viele Vorfälle nicht gemeldet würden.

Mangelhafte Ausbildung

Neben Verstößen gegen den Brandschutz gilt auch die unzureichende Ausbildung der Arbeitnehmer als eine der Hauptursachen für Unfälle an Arbeitsplätzen.

Viele Beschäftigte, so in der Automobilproduktion, sind Migranten, die überarbeitet, unterbezahlt und nicht ausreichend geschult sind.

Jedes Jahr würden Tausende von Arbeitnehmern durch Unfälle in diesem Sektor ihre Hände und Finger verlieren, schreibt die mit der Sicherheit von Arbeitnehmern in der Automobilindustrie befasste Organisation “Safe In India Foundation” in ihrem mit “Crushed 2022” überschriebenen Jahresbericht.

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Stütze der indischen Wirtschaft: Wanderarbeiter. Szene aus dem Bundesstaat Tamilnadu

Verwässerung der Arbeitsschutzgesetze

Ökonomisch hat Indien viel vor: Das Land will ein globales Industriezentrum werden. Zu diesem Zweck fördert es mit Initiativen wie “Startup India” Investitionen und Innovationen. Gleichzeitig kommt es immer wieder zu Vorfällen wie dem Brand in der Elektrofabrik in Neu-Delhi und es stellt sich damit die Frage, ob die Gesundheits- und Sicherheitsstandards des Landes ausreichend sind.

So hat die indische Regierung zwar einige Schritte unternommen, um die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften zu reformieren. Aktivisten sind teils aber der Ansicht, dass die Arbeitnehmer dadurch einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind.

So sieht das neue “Gesetz über Sicherheit, Gesundheit und Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz 2020” unter anderem vor, dass in gefährlichen Fabriken ein “Sicherheitsausschuss” einzurichten ist.

Bisher war die Bildung eines solchen Sicherheitsausschusses für alle Unternehmen vorgeschrieben, unabhängig von der Anzahl der Beschäftigten. Nach dem neuen Gesetz muss der Sicherheitsausschuss jedoch erst nach einer staatlichen Anordnung oder Mitteilung eingerichtet werden. Mit dem Ziel, die Prozesse für die Unternehmen zu vereinfachen, hat die Regierung zudem auch die Vorschriften für Arbeitsplatzinspektionen geändert.

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Protest: Indische Arbeiterinnen protestieren für höhere Löhne.

Erhöhte Risiken befürchtet

Der Gewerkschaftsaktivist und Generalsekretär des Center of Indian Trade Unions, Tapan Sen, kritisiert die neuen Vorgaben scharf. “Zufällige und ungeplante Inspektionen sind fast komplett eingestelt worden. Im Moment sehen wir überhaupt keine Inspektionen. Selbst wenn man eine Inspektion durchführen will, muss man das Unternehmen ein paar Tage vorher informieren. Das wird für die Arbeiter Unsicherheit schaffen “, sagt er der DW.

Die neuen Gesetze hängen die Messlatte für die Einhaltung der Vorschriften noch niedriger als bislang schon, sagt Sen. Gegenwärtig seien für die Inspektion und Gewährleistung der Umsetzung der Sicherheitsvorschriften Beamte des Arbeitsamts zuständig. Doch das werde mit den neuen Gesetzen nicht so weiterlaufen.

Ismail und die Familienangehörigen der anderen Opfer sind derweil entschlossen, den Prozess gegen die Eigner der niedergebrannte Elektrofabrik weiterzuführen – trotz der finanziellen Belastung. Sie hoffen weiterhin auf Gerechtigkeit.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Autor: Adil Bhat

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