Obdachloser am Bahnhof Zoo: „Das Geld vom Betteln gebe ich für Drogen und Schokolade aus“

obdachloser am bahnhof zoo: „das geld vom betteln gebe ich für drogen und schokolade aus“

Ort der Kontraste: In der Gegend des Hit Ullrich treffen Obdachlose und Gäste von Luxushotels aufeinander.

Tauben zerpflücken einen matschigen Döner, der kaum noch als solcher erkennbar ist, daneben liegt getrocknetes Erbrochenes. Das ist einer der ersten Anblicke für Passanten, wenn sie aus dem Bahnhof Zoologischer Garten ins Licht treten. Im Schatten liegt ein Obdachloser. Es ist laut und hektisch, Anzugträger mit teuren Koffern steigen über glimmende Kippenstummel und Scherben von Weinflaschen am Boden. Vor dem Bahnhof wird mehr Englisch als Deutsch gesprochen. Schrille Musik mischt sich mit Straßenlärm und wird zur Großstadt-Melodie, unterlegt mit einem penetranten Uringeruch.

Die Szenerie scheint so gegensätzlich wie Berlin selbst. Neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ragen schicke Luxushotels wie in die Höhe. Polizisten stehen vor dem Waldorf Astoria und bitten Passanten, die Straßenseite zu wechseln. Warum, bleibt unklar.

Gut gekleidete Leute sind hier überall zu finden, meist Touristen oder Dienstreisende, aber sie sind nicht unter sich, denn das hier ist der Kiez rund um den Bahnhof Zoo, der berüchtigte Ort von Christiane F., ein Hort von Obdachlosigkeit, Armut, Drogen, Gewalt und Prostitution. Es gibt nur wenige Orte, an denen diese beiden extremen Welten auf so engem Raum aufeinander treffen.

An einem stylischen Neubau mit Luxuskino geht ein Mann entlang, ganz hager, zerlumpte Kleidung, kurze Hose, schmuddeliges T-Shirt und wenige Zähne. Er spricht Passanten an. Meist bekommt er nichts, ein paar Männer haben keine Münzen für ihn übrig, aber eine Zigarette. Als Dank reicht er jedem von ihnen die Hand, schüttelt sie herzlich, dann steckt er sich die Zigarette in den Mund und geht weiter. Nun fragt er andere Passanten nach Feuer.

Obdachlose bleiben oft gern unter sich, viele geben nicht gerne viel preis über ihr Leben. Auch an diesem Tag bleiben zahlreiche Versuche der Kontaktaufnahme erfolglos. Doch dann kommt der hagere Mann mit der Zigarette im Mundwinkel.

Er schaut mir in die Augen. Feuer habe ich nicht, aber ich gebe ihm alles Bargeld, das ich noch habe. Es sind nur 1,50 Euro. Er nimmt das Geld, streckt die Hand aus und schüttelt meine Hand. Er ist tatsächlich zu einem Gespräch bereit, wechselt dafür jedoch ins Englische, da Deutsch nicht seine Muttersprache ist. Er sagt: „Ich heiße Salomon, ich bin  vor zwei Jahren aus einem israelischen Dorf nach Berlin gezogen.“ Der Familie wegen, sagt er.

Er lebe zusammen mit seinem Bruder auf der Straße, ziehe jeden Tag quer durch die Stadt: „Ich schlafe am Hermannplatz, aber zur Arbeit fahre ich zum Zoo.“ Welche Arbeit denn? Er schaut zu Boden. „Ich bettele.“

Das Geld, das er hier bekommt, gebe er für Drogen aus – deshalb möchte er seinen vollständigen Namen nicht sagen. Er habe Angst vor der Polizei und den Konsequenzen, wenn er verrät, dass er Drogen kaufe. „Das Geld, das dann noch übrig bleibt, gebe ich bei Hit Ullrich aus. Dort ist es günstig“, sagt er und schenkt der Reporterin ein Lächeln. „Ich gebe das Geld vom Betteln meist nur für Drogen und Nussschokolade aus“, wiederholt er und legt einen Finger an sein Kinn. Dann fragt er: „Kannst du mit um die Ecke kommen, ich habe einen Ausschlag am Oberschenkel.“  Er wolle ihn mir zeigen, damit ich einschätzen könne, ob er damit zum Arzt müsse. Das ist mir dann doch zu viel. Aber er bleibt freundlich, schüttelt mir noch einmal ausgiebig die Hand und geht.

Salomon geht unter die Brücke am Bahnhof Zoo in den großen Supermarkt. Unter der Brücke schlafen andere Männer und Frauen, die Schlafsäcke tief ins Gesicht gezogen. Zwei haben eine asiatische Hühnchenpfanne in einer Aluminiumverpackung auf dem Boden stehen und unterhalten sich. Ein vorbeikommendes Kind, vielleicht vier Jahre alt, lässt sich von seinen Eltern etwas Geld geben und wirft die Münzen in den Kaffeebecher.

Über der Szene strahlt ein grelles Schild mit blauen und roten Lettern auf weißem Grund: „Hit Ullrich Verbrauchermarkt“. Durch den Eingang von der S-Bahn ist der Supermarkt in der Hardenbergstraße 25 leicht erreichbar.

Vor dem Haus liegt Müll, Graffiti ist an die Wände gesprüht. Zwei Einkaufswagen sind mit leeren Pappbechern und Plastikmüll bis zum oberen Rand gefüllt. Ein Mann liegt schlafend vor dem Markt,  Bierflasche in der rechten Hand, eine glimmende Zigarette in der linken. Jemand hat offenbar versucht, an dem Gebäude die Fenster einzuwerfen, große Risse ziehen sich über das Glas. Manche Fensterrahmen sind mit orangem Band abgeklebt. Irgendjemand hat offenbar vor längerer Zeit einen schwarzen Schreibtischstuhl auf der Straße abgestellt, daneben uriniert gerade ein Mann an die Wand.

Der Verbrauchermarkt der von außen stellenweise so abgerissen wirkt, sieht von innen aus wie ein normaler, gut aufgeräumter Supermarkt. Vor allem die Größe und die Vielfalt der Produkte fallen auf. Es ist ordentlich, die Mitarbeiter räumen fleißig Waren ein. Das Geräusch von Einkaufswagen wird übertönt von jugendlichem Gelächter: „Lass mal Energy holen!“, ruft ein etwa 16-Jähriger seinen vier Freunden zu. „Dort hinten findet ihr es“, sagt jemand, kein Mitarbeiter, aber offenbar ortskundig.

Die Kontaktaufnahme ist nicht nur mit Obdachlosen schwierig, sondern auch hier drinnen. Ein Mitarbeiter, der gerade Mate-Erfrischungsgetränke einsortiert, will nicht reden und verweist an die Chefs. Über zwei weitere Mitarbeiter geht es bis zur stellvertretenden Filialleiterin. Aber auch sie möchte keine Auskunft geben. „Von mir erfahren Sie dazu leider nichts“, sagt sie, ohne sich die Fragen anzuhören. Als ich den Laden verlasse, sehe ich Salomon, der durch die Gänge wuselt. Er winkt.

Der Hit Ullrich hebt sich vor allem deshalb von der Konkurrenz ab, weil er an jedem Tag in der Woche und das gesamte Jahr – auch an Feiertagen – geöffnet hat. Für viele Berliner ist der Laden am Zoo seit der Gründung 1969 durch Hans-Rudolf Ullrich Kult. In der etwas feineren Einkaufsgegend rund um den Kudamm gibt es alles mögliche, aber nur wenige Supermärkte, auch deshalb ist diese Laden ein Ort, wo sich alle treffen.

Gerade weil der Markt ein so breites Angebot hat, spricht er auch alle Passanten in diesem Gebiet an. Hier holen sich die Obdachlosen ihr Billigbier und die Touristen einen Snacksalat aus dem Kühlschrank.

Auf Anfrage schreibt Hit, dass es in dem Markt am Bahnhof Zoo ein sehr durchmischtes und breites Publikum gebe. „Wir lieben diesen Standort und schätzen gerade diese diverse Kundschaft. Es ist faszinierend und wäre in keiner anderen Stadt möglich, dass wie bei uns sonntags bedeutende Schauspieler mit Obdachlosen in einer Schlange stehen. Das ist eine Liberalität, die man wirklich lieben muss“, verkündet die Hit-Gruppe.

Es gibt einen Sicherheitsdienst und -vorkehrungen am Ort. Dieser könne im Notfall eingreifen, sagt Hit. Es passiere jedoch nicht viel. „Es ist doch so: Unabhängig von ihrer sozialen Situation können sich doch alle Leute gleich vernünftig benehmen“, schreibt Hit der Berliner Zeitung.

Eine Dame mit kurzem weißem Haar verlässt gerade den Laden, tief gebückt mit schweren Taschen. Sie scheint weit über 80 Jahre alt zu sein und trägt drei Einkaufstüten, aus denen Lebensmittel ragen. Die Tüten scheinen ihr zu schwer zu sein, regelmäßig stellt sie die Beutel auf der Straße ab. Ein junger Mann mit Kopfhörern sieht sie an, läuft aber eilig weiter.

Sie greift sich die Beutel und sagt: „Dit is Berlin, wa? Hier hilft niemand einer alten Frau.“ Die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, geht hier regelmäßig einkaufen. Das liegt vor allem daran, dass sie die Preise erschwinglich findet. Zudem gebe es eine gute Auswahl, da lohne es sich auch, ein bisschen weiter zu fahren. Dann möchte sie weitergehen, sie muss noch ein Stück. Nicht nur die Obdachlosen kommen hierher wegen der Preise.

Um die Ecke findet ein Mal in der Woche das Seniorenfrühstück der Berliner Stadtmission statt. Hier arbeiten zwölf Festangestellte – Ehrenamtliche werden  händeringend gesucht. Barbara Breuer von der Stadtmission berichtet, dass sie einen Anstieg in der Altersarmut feststellen könne. Jede Woche kämen etwa 16 Gäste, die älteste Dame sei 92 Jahre alt. Die Senioren und Obdachlosen kämen von der Straße und aus der direkten Nachbarschaft. Bei der Stadtmission muss die Bedürftigkeit nicht nachgewiesen werden. „Manche haben eine kleine Rente, aber sind sehr einsam. Für sie ist es schön, mal nicht alleine zu essen“, sagt Breuer. Die Angebote seien niedrigschwellig, da davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch Bedarf nach etwas habe. „Manche haben Bedarf nach Essen, andere nach Gesellschaft.“

Die Berliner Stadtmission, ein evangelischer Verein, gibt es seit 147 Jahren. Er wurde während der Industriellen Revolution gegründet, als viele Menschen über die vielen Bahnhöfe nach Berlin kamen. Diese Suche nach dem Glück in der Großstadt sei noch heute aktuell. „Auch heute verbindet man Berlin noch mit der Hoffnung auf ein besseres Leben“, sagt Breuer. Sie erzählt, dass zur Gründungszeit der Stadtmission beispielsweise junge Frauen nach Berlin geschickt wurden, für die die Großstadt eine neue Welt war. Das wurde oft von Zuhältern ausgenutzt, die den jungen Frauen einen Job versprachen und sie in die Prostitution drängten.

Noch heute ist die Stadtmission an den Berliner Bahnhöfen anzutreffen, um Menschen Zuflucht und einen Raum zu bieten, sich hinzusetzen, sich zu unterhalten und Zeitung zu lesen. Ein paar Meter weiter gibt es ein Hygienecenter, in dem man sich duschen oder rasieren kann. „Das ist relativ einzigartig“, sagt Breuer. Der Zoo ist nicht nur einer der großen Treffpunkte der Touristen, sondern auch der Armen dieser Stadt. Im Zentrum am Zoo gibt es Sozialarbeiter, Psychologen und mobile Einzelfallhelfer. „Sie können vielleicht den nötigen Strohhalm reichen“, so Breuer.

Als Passant könne man drei Dinge tun, um zu helfen: Geld, Kleidung und Zeit spenden. Am 20. April findet ein Tag der offenen Tür bei der Stadtmission am Hardenbergplatz 13 statt. Dann können Obdachlose Passfotos machen, es gibt kostenloses Essen und eine Führung durch die Bahnhofsmission, vielleicht finden sich dann auch ehrenamtliche Helfer.

In unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Zoo stehen zahlreiche Hotels. Einige davon sind Luxushotels, wie beispielsweise das Waldorf Astoria, es liegt in der Hardenbergstraße ganz in der Nähe der Stadtmission und des Hit-Ullrich-Marktes. Doch in solchen Hotels  gehört Verschwiegenheit zum Programm. Auch schriftliche Anfragen über den Kontrast am Zoo sind noch erfolgloser als bei den Obdachlosen oder im Supermarkt. Hier wird eisern geschwiegen zu der doch oft recht schwierigen Nähe von bitterer Armut der Menschen in den Schlafsäcken und dem Wohlstand der Berlin-Besucher.

Beide Welten haben wenig Kontakt, auch wenn die Koffer der Touristen ziemlich oft durch eine Kotzlache am Bahnhof rollen.

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