Todeszeit Freitag, 14.17 Uhr – oder doch nicht?

Wo ist seine Leiche? Es wird wohl lange dauern, bis die Umstände geklärt sind, unter denen der russische Oppositionelle starb. Zu viel Information könnte die programmierte Wiederwahl von Wladimir Putin trüben.

todeszeit freitag, 14.17 uhr – oder doch nicht?

In Russland legten Hunderte Menschen an improvisierten Gedenkorten Fotos von Nawalny und Blumen nieder. Szene aus St. Petersburg.

Dem Häftling kam irgendetwas seltsam vor. Zwischen 20 Uhr und 20.30 Uhr am Abend werden in der Strafkolonie Nr. 3 am Polarkreis üblicherweise die Gefangenen überprüft. Es passiere schon mal, dass vor einem Feiertag alles etwas schneller ablaufe. Diesmal aber stand kein Feiertag an. Es war Donnerstagabend, der mutmasslich letzte Abend im Leben von Alexei Nawalny, und ein Mitgefangener, mit dem die russische Zeitung «Nowaja Gaseta Europa» Kontakt hat, berichtete ihr anonym von einigen Merkwürdigkeiten in diesen Stunden.

Dreimal fuhren Autos vor

Die Überprüfung sei am Abend ohne erkennbaren Anlass stark beschleunigt, der Wachdienst verschärft worden, und niemand, so seien sie gewarnt worden, dürfe zwischen den Baracken unterwegs sein. Spät am Abend und in der Nacht seien dreimal Autos vorgefahren. Anders als es die russische Strafvollzugsbehörde erklärt hatte, bemerkte der Gefangene am nächsten Morgen angeblich kein Rettungsfahrzeug – erst als die Nachricht von Nawalnys Tod schon bekannt war. Der Gefangene habe nach dem Bericht der «Nowaja Gaseta» aus all dem den Schluss gezogen: Nawalny starb unerwartet, seiner Ansicht nach wohl schon am Donnerstagabend.

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Alexei Nawalny bei einer Videoschalte zur Gerichtsverhandlung.

Über den Tod des bekannten russischen Oppositionsführers wird seit Freitag viel spekuliert. Woran genau ist er gestorben, und warum konnte er am Tag zuvor noch so fröhlich bei einem Gerichtsauftritt witzeln? Ging es Nawalny sehr viel schlechter, als er vorgab? Wo ist seine Leiche? Werden die Angehörigen sie sehen können? Und wann? Offizielle Angaben gab es bis zum Wochenende kaum. Die russische Strafvollzugsbehörde (FSIN) hatte die Todeszeit mit 14.17 Uhr am Freitag angegeben.

Die Mutter hat ihren Sohn noch nicht gesehen

Am Sonntag berichtete die «Nowaja Gaseta Europa», dass Nawalnys Leichnam im Leichenschauhaus des Spitals von Salechard liege, einem vierstöckigen hellbraunen Gebäude in der Hauptstadt des autonomen Kreises der Jamal-Nenzen. Nawalnys Mutter ist am Wochenende dorthin gereist und hat die Todesnachricht bestätigt bekommen, ihren Sohn hat sie noch nicht sehen können.

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«Das Glück ist nicht weit weg»: Der zynische Spruch am Eingang zur Strafkolonie Nr. 3 am Polarkreis.

Nach dem Bericht der «Nowaja Gaseta» sind auf dem Leichnam blaue Flecken, die einem Mediziner zufolge von Krämpfen oder Wiederbelebungsversuchen herrühren könnten. Doch warum letztendlich sein Herz aufhörte zu schlagen, als er nach einem Gefängnisspaziergang zusammenbrach, wegen einer Embolie, wie es zunächst geheissen hatte, das wird noch untersucht. Die «Nowaja Gaseta» berichtete, die Gefängnisleitung habe gegenüber Nawalnys Mutter ein «Syndrom des plötzlichen Todes» erwähnt, eine Diagnose, die es nach Angaben unabhängiger Spezialisten so gar nicht gebe.

Ewa Lewenberg, russische Strafrechtsexpertin der Bürgerrechtsplattform OVD-Info, sagte, dass eine Standarduntersuchung des Leichnams drei Tage dauere, aber bei Nawalny bis zu 30 Tage oder noch mehr nötig sein könnten. Dieser Fall sei «für sich genommen ausreichend ungewöhnlich», sagte Lewenberg dem Onlinemedium Agentstwo.

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«Nicht tot, sondern getötet»: Protest in St. Petersburg.

Die Mitarbeiter von Nawalny forderten die russischen Behörden auf, den Leichnam rasch seiner Familie zu übergeben. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch schrieb auf X, es sei offensichtlich, «dass sie alles dafür tun, damit sie den Leichnam nicht übergeben». Vor dreieinhalb Jahren habe Wladimir Putin versucht, Nawalny zu töten. «Gestern hat er ihn getötet», sagte sie am Samstag. Das unabhängige Menschenrechtsprojekt OVD-Info berichtete, dass bereits mehr als 12’000 Menschen seinem Aufruf an die Ermittlungsbehörden gefolgt seien, Nawalnys Leichnam seinen Angehörigen zu übergeben.

Der Kreml will Unruhe vermeiden und unterdrücken

Doch das dürfte vermutlich erst geschehen, wenn die Obduktion abgeschlossen ist. So kurz vor der Wahl könnte das bedeuten, dass die verlängerte Zeitspanne von 30 Tagen ausgeschöpft wird. Die Präsidentenwahl findet am 17. März statt. Kremlchef Putin, den die Mitarbeiter Nawalnys, aber auch US-Präsident Joe Biden und andere westliche Politiker für seinen Tod verantwortlich machen, will sich dann erneut für sechs Jahre im Amt bestätigen lassen. Bis dahin will der Kreml Unruhe im Land möglichst vermeiden und unterdrücken.

Einen Monat vor der Präsidentenwahl in Russland ist der Tod des Oppositionellen Nawalny für den regierungskritischen Teil der Bevölkerung ein schwerer Schlag. Wegen seiner Haft hatte er zwar an Einflussmöglichkeiten verloren; seine Antikorruptionsstiftung wurde als «extremistisch» eingestuft und verboten, im ganzen Land wurden Mitarbeiter schikaniert, festgenommen, viele flüchteten ins Ausland. Und im Dezember hatten ihn die Vollzugsbehörden auch noch in die 2000 Kilometer von Moskau entfernte Strafkolonie «Polarwolf» verlegt, sodass seine Anwälte nur unter Strapazen dorthin reisen konnten.

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Repression in St. Petersburg: Wegen der öffentlichen Trauer über Alexei Nawalnys Tod wurden am Wochenende in ganz Russland etwa 400 Menschen festgenommen.

Trotzdem ist Nawalny für Andersdenkende immer eine Projektionsfläche gewesen, jemand, hinter dem sich viele versammelten, da es im Parlament praktisch keine echte Opposition gibt, und nun, zur Wahl, wieder mal eine Kandidatin (Jekaterina Dunzowa) und ein Kandidat (Boris Nadeschdin) von der Wahlkommission abgelehnt wurden, die sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprachen. Nawalny gab ihnen über Jahre das Gefühl, nicht allein zu sein. «Habt keine Angst», diese Botschaft hatte er immer wieder auf Zetteln durch die Gitterstäbe an seine Unterstützer verbreitet.

Nun ist er tot, und die Trauer in Russland war am Wochenende in vielen Städten des Landes spürbar. Die meisten Russinnen und Russen trauerten in Moskau und Sankt Petersburg um Nawalny. In der Stadt an der Newa steckten Menschen an einem Teich rote Nelken in den Schnee, in Moskau hielt eine junge Frau ein Schild hoch, auf das sie geschrieben hatte: «Mörder». Zwei Polizisten standen schon neben ihr und griffen nach ihren Armen. Das Portal OVD-Info berichtete am Sonntagnachmittag auf seiner Website, dass wegen der öffentlichen Trauer über Nawalnys Tod am Wochenende bereits 400 Menschen festgenommen worden seien.

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