Ampel feiert Ende von „Unrecht“ – Union sieht Probleme auf die Gesellschaft abgewälzt

Das eigene Geschlecht wird künftig subjektiv bestimmt: Die Ampel beschließt im Familienausschuss das Selbstbestimmungsgesetz. Eine Beratungspflicht für Jugendliche wird es nicht geben. Ein Geschlechterforscher warnt vor Gefahren für Minderjährige – besser wäre es, das Gesetz „zu beerdigen“.

ampel feiert ende von „unrecht“ – union sieht probleme auf die gesellschaft abgewälzt

Getty Images; WELT; Montage: Infografik WELT

Die Ampel-Koalition hat im Familienausschuss die Schlussfassung des sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes beschlossen; auch die Linke stimmte dafür. Am Freitag soll es im Bundestag verabschiedet werden. Der Kern des Gesetzes bleibt unverändert: Geschlecht soll zur reinen Entscheidungsfrage werden. Erwachsene Staatsbürger und Minderjährige ab 14 dürfen einmal im Jahr wählen, ob sie männlich, weiblich oder divers seien – oder ob sie ganz auf einen Eintrag verzichten wollen.

„Das Grundproblem“ des Selbstbestimmungsgesetzes sei somit nicht behoben, sagte Geschlechterforscher Till Randolf Amelung: „Volljährige dürfen weiterhin ohne jeden Nachweis ihren amtlichen Geschlechtseintrag ändern.“ Missbrauch von Gesetzeslücken sei programmiert. Als Beispiel führte Amelung die spanische Enklave Ceuta an, wo im vergangenen Jahr nach Verabschiedung eines ähnlichen Gesetzes mehrere männliche Soldaten ihren Eintrag in „weiblich“ änderten, um sich Vorteile zu verschaffen.

Bislang regelt den Wechsel von Mann zu Frau oder umgekehrt das Transsexuellengesetz; demnach müssen Sachverständige die Ernsthaftigkeit und Beständigkeit einer dem Wechsel zugrundeliegenden Transsexualität bescheinigen. Einzelne Vorschriften des Gesetzes hat das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, nicht aber die Begutachtungspraxis an sich. Eine Reform des Gesetzes wäre also möglich gewesen, die Ampel hätte etwa die oft als entwürdigend beschriebenen Begutachtungsprozesse verbessern können. Stattdessen entschieden Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) in ihrem Entwurf, Geschlecht zur Frage subjektiver Zuordnung zu erklären.

Ampel-Abgeordnete wählten verbal die maximale Fallhöhe: Der Queer-Beauftragte der Regierung, Sven Lehmann (Grüne), sprach nach der Ausschusssitzung von „40 Jahren Leid“ durch das von der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt (SPD) beschlossene Transsexuellengesetz. Im Ausschuss selbst sagte Anke Henning von der SPD: „Wir beseitigen endlich staatliches Unrecht.“ Ihre Grünen-Kollegin Nyke Slawik zog gar einen Vergleich zur Schwulenverfolgung im Kaiserreich und im Nationalsozialismus: Es werde mit dem Gesetz der Ampel „keine ‚Rosa Listen‘ geben, wie manche in der Community befürchtet haben“. Auf „Rosa Listen“ wurden schwule Männer zur Strafverfolgung und Erpressung vermerkt.

Slawik nahm darauf Bezug, dass aus dem Gesetzentwurf eine von Sicherheitsbehörden geforderte und spät in den Entwurf hinein verhandelte Passage wieder verschwunden ist. Diese hatte vorgesehen, dass nach Änderung des Geschlechtseintrags einer Person Meldungen mit den aktualisierten Personendaten ans Bundeskriminalamt, die Migrationsbehörden und das Finanzamt geschickt werden sollten. Hintergrund war die Befürchtung, dass Personen das Selbstbestimmungsgesetz zur Verschleierung ihrer Identität nutzen könnten. Das ist nach aktuellem Ampel-Entwurf wieder möglich; die Abgeordneten wollen am Freitag nun die Bundesregierung aufrufen, Missbrauch durch eine Reform des Namensrechts zu verhindern.

Die CDU-Abgeordnete Mareike Lotte Wulf kritisierte das im Ausschuss: Die Ampel-Abgeordneten spielten nun ihren Ball einfach an die Regierung zurück, statt selbst nach Lösungen zu suchen. Wulf merkte während der Sitzung zudem an: Wenigstens sei dem neuen Entwurf anzumerken, dass die Ampel-Abgeordneten „versucht“ hätten, „Kinder- und Jugendschutz zu berücksichtigen“. Das sei aber „nicht gelungen“.

Bisherige Entwürfe des Selbstbestimmungsgesetzes sahen vor, dass Minderjährige ab 14 ihren Geschlechtseintrag bestimmen können sollen. Kritiker forderten eine Beratungspflicht. Der neue Gesetzentwurf bleibt aber dem Paradigma der „Selbstauskunft“ treu. Dort heißt es: Mit der „Versicherung“ über den gewünschten neuen Geschlechtseintrag habe „die minderjährige Person zu erklären, dass sie beraten ist“.

Judith Froese, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Konstanz, nannte den Passus gegenüber WELT „eher Kosmetik als Substanz. Es gibt keine Beratungspflicht, sondern zusätzlich zur Erklärung über den Wechsel des Geschlechtseintrags ist auch zu erklären, dass man beraten worden ist.“ Ein Nachweis über eine Beratung ist laut Gesetz nicht erforderlich.

Es gibt zudem keine Vorgaben, wer die Beratung durchführen muss. Das müsse laut Entwurf „nicht zwingend eine Person sein, die eine spezifische Berufsqualifikation hat, sondern könnte beispielsweise auch eine Person sein, die bereits eine Transition“, also eine Änderung des Geschlechtseintrags oder eine geschlechtsangleichende Operation, „hinter sich hat“, so Froese. Auch die CDU-Abgeordnete Wulf sprach von einer „Alibilösung“. Für sie sei „dieses Gesetz deshalb nicht zustimmungsfähig“.

Union rügt „Selbstheroisierung“ der Ampel

Geschlechterforscher Amelung mahnte zudem: Es müsse sichergestellt werden, dass die erfolgende Beratung „eine tatsächlich ergebnisoffene und nicht nur rein affirmative Beratung ist“. In der deutschen queeraktivistischen Szene gelten nur „affirmative“ Beratungen – also nur solche, die das vorgetragene Geschlechtsempfinden bestätigen – als gute Form der Beratung; auf dieser Grundlage arbeiten sehr viele bestehende Trans-Beratungsstellen.

Amelung wies darauf hin, dass zufällig am selben Mittwoch, an dem die Ampel ihr Selbstbestimmungsgesetz im Familienausschuss als Ende von „Unrecht“ feierte, in Großbritannien ein Abschlussbericht zur Bewertung der mittlerweile geschlossenen Londoner Gender-Klinik Tavistock veröffentlicht wurde.

Der Bericht, so Amelung, stelle „auch heraus, dass bereits die soziale Transition, zu der auch die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags gehört, eine mächtige Intervention ist und die Weichen für medizinische Transitionsschritte stellt“. Die Beratung von Kindern und Jugendlichen müsse „diese neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen unbedingt berücksichtigen. Besser wäre es aber, das Selbstbestimmungsgesetz ganz zu beerdigen und von Beginn an lieber eine verantwortungsbewusste Lösung zu erarbeiten.“

Die CDU-Abgeordnete Wulf kritisierte im Nachgang zudem die drastische Wortwahl, mit der einige Ampel-Abgeordnete ihr Gesetz im Ausschuss gelobt hatten, als „überhaupt nicht angemessen“ wie jede „Form von Selbstheroisierung in der Politik“. Diese „Art von Partykultur angesichts der eigenen Vorhaben, die sich in der Ampel-Regierung ausgebreitet hat“, ist aus Wulfs Sicht „eher kontraproduktiv für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

Die Christdemokratin warnt: „Es bestehen weiterhin rechtliche Folgeprobleme, die einfach auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Ob eine Transperson in einem Sportverein etwa in der Kategorie Männer oder Frauen startet, muss der Sportverein nach wie vor Ort selbst lösen. Das heißt, es wird eine erhebliche Verunsicherung geschaffen, eine gesellschaftliche Verunsicherung, die es nicht geben würde, gäbe es eine Voraussetzung für den Personenstandswechsel über die Selbstauskunft hinaus.“

Wulfs Forderung: „Es braucht eine Prüfung eines Änderungswunsches durch den Staat, damit Geschlecht weiterhin eine verlässliche Kategorie ist, auf die sich jeder Bürger in jeder Lebenslage eindeutig berufen kann.“

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