2022 ;gab es im häuslichen Umfeld fast gleich viele versuchte Tötungsdelikte an Männern wie an Frauen. Lynne Sladky / AP
Es war während einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen, als Jakob all seinen Mut zusammennahm und seiner Partnerin buchstäblich davonlief. Jakobs Flucht bedeutete das Ende seines Martyriums.
Schon Jahre zuvor hatte seine Partnerin damit begonnen, ihn beim Streit zu verletzen. Sie warf Gegenstände nach ihm, schlug auf ihn ein, nur um ihn kurz darauf liebevoll und reuig zu verarzten. «Ich dachte jedes Mal, nun werde ja alles wieder gut», wird er später erzählen.
Jakob, der in Wahrheit anders heisst, liess seine Partnerin in den Bergen allein zurück und ging auf direktem Weg ins Männer- und Väterhaus «Zwüschehalt» in Luzern. Er ist einer von Tausenden Männern, die in der Schweiz jedes Jahr Opfer von häuslicher Gewalt werden. Es sind Männer, für die es fast keine massgeschneiderten Hilfsangebote gibt. Und denen nicht selten lapidar gesagt wird: «Warum hast du nicht einfach zurückgeschlagen?»
Zahl der Täterinnen stark gestiegen
Zwischen 2009 und 2022 registrierte das Bundesamt für Statistik eine schwankende Zahl weiblicher Geschädigter, mal 7000, mal 8000 pro Jahr. Doch bei den Männern ging es konsequent nach oben. Waren es 2009 noch rund 2300 männliche Geschädigte im Bereich häusliche Gewalt, sind es heute knapp 3400. Männer machen 29,8 Prozent aller Opfer aus.
Wie viel davon auf gleichgeschlechtliche Beziehungen entfällt, geht aus den Statistiken nicht hervor. Klar ist aber: Die Zahl der Täterinnen im häuslichen Umfeld wuchs parallel mit jener der männlichen Opfer stark an.
Dasselbe Bild zeigte sich im häuslichen Kontext auch bei Gewaltmeldungen an die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter UBA, wie Geschäftsleiterin Ruth Mettler auf Anfrage sagt. Im letzten Jahr gab es dabei eine deutliche Verschiebung. «Von Gewalt betroffene Männer im Alter machten 2023 rund 36 Prozent der an uns gemeldeten Fälle aus, zuvor waren es 24 Prozent.»
Der Mann als Opfer, die Frau als Täterin – ein besonders krasser Fall wurde am Freitag am Berner Obergericht verhandelt. Die brasilianische Profiboxerin Viviane Obenauf, die ihren Ehemann zu Tode geprügelt hat, wurde zu 18 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Solche Taten kommen indes immer noch selten vor. Es sind nach wie vor viel häufiger Frauen, die von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht werden, was als Femizid in die Statistik eingeht.
Doch es hängt wohl auch mit diesen medial vielbeachteten Extremtaten zusammen, dass sich das Klischee hartnäckig hält, wonach Männer zu Hause vor allem psychischer Gewalt ausgesetzt sein sollen: Herabwürdigungen, Drohungen, Beschimpfungen. Dieses Bild lässt sich mit Zahlen allerdings nicht erhärten.
So gab es 2022 im häuslichen Umfeld fast gleich viele versuchte Tötungsdelikte an Männern wie an Frauen (27 zu 34). Die Polizeien verzeichneten 41 schwere Körperverletzungen an Männern und 79 an Frauen. Bei den einfachen Körperverletzungen war knapp jedes dritte Opfer ein Mann, bei den Tätlichkeiten ist das Verhältnis bei 1:2. Einzig Sexualdelikte betreffen fast ausschliesslich Frauen.
Eine Angleichung der Gewalt
«Die kontinuierliche Zunahme an Gewalt gegen Männer im häuslichen Umfeld ist tatsächlich bemerkenswert», sagt Markus Theunert, Leiter des Dachverbands der Männer- und Väterorganisationen. «Häusliche Gewalt wird generell stärker thematisiert, vielleicht gibt es mittlerweile auch unter Männern eine tiefere Schwelle, Ãœbergriffe zur Anzeige zu bringen», sagt Theunert. Sich als Mann als Opfer zu bezeichnen, möge überdies noch immer ein Tabu sein. Jedoch: «Die Männlichkeitsnormen weichen zusehends auf. Die Gesellschaft anerkennt heute grundsätzlich, dass auch Männer Opfer werden können.»
Allenfalls finde auch eine «Angleichung der Gewaltmuster» zwischen den Geschlechtern statt, so Theunert. «Männer werden gewiefter in der psychologischen ‹Kriegsführung›, Frauen bereiter, sich handgreiflich zur Wehr zu setzen.» Aggressives, früher nur Männern zugestandenes Verhalten, werde zunehmend kompatibler mit weiblichen Rollenerwartungen.
Zurück zu Jakob, der vor seiner Frau geflüchtet ist. Er blieb einige Wochen im Männer- und Väterhaus «Zwüschehalt», bis er in eine eigene Wohnung ziehen konnte. «Es kommen jedes Jahr mehr Männer in Not zu uns», sagt der Leiter des Hauses, Manfred Schneeberger. Die Betroffenen stammten aus allen sozialen Schichten. «Auffällig ist einzig, dass immer wieder Schweizer Männer aus binationalen Paaren, insbesondere mit südamerikanischen und osteuropäischen Partnerinnen, unsere Hilfe benötigen.» Über die Gründe will Schneeberger nicht mutmassen.
Sich als Gewaltopfer zu outen, sei für Männer immer noch sehr schwierig, sagt Schneeberger. «Das Tabu ist allgegenwärtig. Weder Freunde noch Verwandte oder gar der Arbeitgeber sollen erfahren, was man durchlitten hat.»
In den Augen Schneebergers ist die Dunkelziffer an gepeinigten Partnern riesig. «Die meisten Männer, die wir telefonisch oder vor Ort betreuen, haben eindeutig Gewalt erlebt, aber verzichten am Ende auf eine Anzeige.» Oft sei die Angst vor falschen Gegenanschuldigungen gross, gerade wenn Kinder im Spiel seien.
Täterinnen sollen in Kurse
Institutionen wie das Haus «Zwüschehalt» gibt es in der Schweiz nur eine Handvoll. Im Gegensatz zu den Frauenhäusern erhalten sie kein Geld von Bund oder Kantonen und sind finanziell abhängig von Stiftungen oder den Landeskirchen.
Nicht nur bei Schutzhäusern besteht ein Ungleichgewicht. Auch sonst sind viele Anstrengungen im Bereich häusliche Gewalt auf Frauen ausgerichtet. Müsste die Politik den Fokus stärker auf männliche Geschädigte richten? Reto Nause beschäftigt sich schon seit Jahren mit dieser Frage. Der Nationalrat und Sicherheitspolitiker hat als Berner Gemeinderat schon mehrere Kampagnen gegen häusliche Gewalt umgesetzt. Teilweise wurden explizit Männer als Opfer angesprochen.
Die Vernetzung zwischen Städten, Kantonen und dem Bund funktioniere bei der Gewalt gegen Frauen heute sehr gut, sagt Nause. «Bei den männlichen Opfern ist diese Vernetzung hingegen praktisch inexistent.» Doch er gibt auch zu bedenken: «Aufgrund der nach wie vor dominierenden gesellschaftlichen Vorstellungen des ‹starken› Mannes wissen wir nicht, wie viele Männer überhaupt ein Männerhaus aufsuchen würden.» Opferfachstellen stünden Männern zudem heute schon offen.
Nause verweist auf einen anderen Punkt: «Die Behörden müssten die Frauen als Täterinnen stärker adressieren. Präventionskurse und Täterberatungen richten sich heute praktisch ausschliesslich an Männer», sagt Nause. «Auch für Frauen, die ihre Partner schlagen, braucht es solche Kurse.»
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