Bundesregierung: Wer in Berlin wirklich das Sagen hat
Robert Habeck trägt die Verantwortung im Bundeswirtschaftsministerium
Das Thema elektrisiert – nicht nur die Abgeordneten im Bundestag, sondern auch die Öffentlichkeit. Als es im Frühjahr 2022 darum ging, was der russische Angriff auf die Ukraine für die Energieversorgung in Deutschland bedeutet, rieten Beamte im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) auch dazu, eine begrenzte Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke zu prüfen. Bis zum Minister drang dieser Vermerk aber nicht vor.
Aus Habecks Sicht kein Problem, er habe ohnehin mit den Kraftwerksbetreibern über solche Fragen gesprochen. Aus Sicht der Union blockte dagegen Habecks damaliger Staatssekretär den aus seiner Sicht unerwünschten Rat ab. Während die politische Bewertung der Vorgänge umstritten ist, werfen die vom Magazin „Cicero“ veröffentlichten Aktenvermerke aber ganz grundsätzliche Fragen auf: Wie mächtig sind die Fachbeamten in einem Ministerium eigentlich? Kann sich ein Minister einfach über die Empfehlungen seiner Leute hinwegsetzen?
Im Zentrum der Macht: das Reichstagsgebäude in Berlin
Minister kommen und gehen
Ein Satz, den man auf Fluren in Ministerien häufiger hört, lautet: „Minister kommen und gehen – wir bleiben bestehen.“ Er zeugt von einer Beamtenschaft mit Selbstbewusstsein. Jeder Politiker, der ein Ministerium übernimmt, muss daher als erstes sehen, wie er den „Laden“ so organisiert, dass er seine Ziele durchsetzen kann, auch gegen internen Widerstand.
Dabei hilft das Recht, politische Beamte ohne Begründung in den einstweiligen Ruhestand zu schicken und durch eigene Vertraute zu ersetzen. Das betrifft die Staatssekretäre und Abteilungsleiter. Die Mitarbeiter aus dem Ministerbüro der Vorgänger werden in der Regel ohne Aufhebens auf politisch weniger wichtige Posten versetzt. Da gibt es auch wenig Protest, so sind die Regeln im politischen Geschäft.
Gesammelte Kompetenz auf der Fachebene, politischer Gestaltungswille an der Ministeriumsspitze – das kann im Regierungsalltag zu Reibereien führen. Die politische Kunst besteht darin, dass diese nicht nach außen dringen. Im Idealfall macht sich der Minister oder die Ministerin zunächst bei den Fachleuten schlau, wenn ein Gesetz reformiert werden oder neu entstehen soll.
Die zuständigen Fachreferate erarbeiten dann eine Vorlage. Die läuft über die Hierarchietreppe nach oben: Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter, Staatssekretär, Minister. Jede Ebene markiert ihre Änderungen mit einer eigenen Stiftfarbe. In welcher, das regelt die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, kurz GGO: Unterabteilungsleiter nutzen Braun, Abteilungsleiter Blau, beamtete Staatssekretäre Rot, parlamentarische Staatssekretäre Violett und die Minister Grün. Mit Streichungen, Anregungen, Ergänzungen bis hin zu Weisungen, geht das Werk schließlich zurück an die Ersteller.
Verantwortung in der Viel-Farben-Bürokratie
Die Viel-Farben-Bürokratie hat einen Vorteil: So wird klar, wer was wollte und wer wofür verantwortlich ist. Theoretisch zumindest. Immer häufiger ist in letzter Zeit zu hören, dass Vorlagen vorzeitig gestoppt und zur grundsätzlichen Überarbeitung zurückgeschickt werden.
Der Vorteil dieses Verfahrens für die Leitungsebene: Wenn es vorher Bedenken aus der Fachebene gab, sind sie später nicht mehr zu sehen. Die Leiter der Ministerbüros und die Staatssekretäre steuern, was ihre Chefs zu sehen bekommen. Die Minister sollen nicht in einer Papierflut ertrinken. Umgekehrt müssen sie sicherstellen, alles zu erfahren, was wichtig ist oder irgendwann einmal wichtig sein könnte.
Ob sie daraus dann die richtigen Rückschlüsse ziehen, ist eine andere Frage. Als im Frühjahr 2023 der Entwurf aus Habecks Ministerium zur Verschärfung des Gebäudeenergiegesetzes öffentlich wurde, war der Inhalt keine Überraschung. Ein Jahr zuvor hatte sich der Koalitionsausschuss von SPD, Grünen und FDP darauf geeinigt, neue Gas- und Ölheizungen von Anfang 2024 an weitgehend zu verbieten. Habecks damaliger Energiestaatssekretär Patrick Graichen und die Fachabteilung für Wärme schrieben das Gesetz dazu. Das Konzept für die Wärmewende hin zu strombetriebenen Wärmepumpen hatte Graichen schon zu seiner Zeit als Chef der Denkfabrik Agora Energiewende geschrieben.
Widerstand gegen die Wärmewende
Womit keiner der beiden gerechnet hatte: Dass die Umsetzung des Koalitionsbeschlusses so großen Widerstand auslösen würde. Die „Bild“-Zeitung wetterte zusammen mit der FDP gegen den „Heiz-Hammer“, für Immobilienverbände war Graichen der „Öko-Taliban“. Inzwischen ist geregelt, dass erst mal die Kommunen ihre Fernwärmepläne machen müssen. Graichen ist weg. Nicht (nur) wegen der Heizungen, sondern weil er seinen Trauzeugen zum Chef der Deutschen Energie-Agentur machen wollte.
Habeck ist nach dieser Krise, an der die Koalition beinahe zerbrach, oft gefragt worden, wie dieser erste Entwurf überhaupt so entstehen konnte. Ein Verkaufsverbot für die in Deutschland immer noch mit Abstand beliebteste Heizungsart, die Gasheizung, und das mit weniger als einem Jahr Vorlaufzeit? Er sagt dazu, er habe die Stimmung in der Bevölkerung zum Ausstieg aus den Fossilen falsch eingeschätzt. In Ministerium bedauert man heute, das Gesetz nicht schon im Sommer 2022, als die Energiepreise auf Rekordhoch waren, geändert zu haben.
Ein Beispiel für eine Regelung, die ein Minister einmal gegen den Rat seiner Beamten durchgesetzt hat, ist die Mobilitätsprämie in der Einkommensteuer. Sie ist als Ergänzung zur Entfernungspauschale gedacht. Von dieser profitiert nur, wer viele Kilometer zur Arbeit fährt und so viel verdient, dass er Steuern zahlt. Wer mit seinem Einkommen unter dem Grundfreibetrag liegt, hat nichts davon.
Olaf Scholz wollte in seiner Zeit als Finanzminister eine Ergänzung – vielleicht, weil er seine Partei davon überzeugen wollte, dass er ein echter Sozialdemokrat, ein guter Kanzlerkandidat ist. Deshalb gibt es heute eine Regelung für den Spezialfall, dass jemand sehr weite Strecken zur Arbeit fährt, obwohl er damit so gut wie nichts verdient.
Lindner will die Progression aushebeln
Scholz’ Nachfolger Christian Lindner denkt nun daran, Überstunden von der Einkommensteuer zu befreien, um Angestellten Lust auf Mehrarbeit zu machen. Der Liberale entfernt sich damit allerdings von dem Grundsatz im Steuerrecht, dass jeder nach seiner Leistungsfähigkeit zu besteuern ist. Mit steigendem Einkommen steigt der Steuersatz. Diese sogenannte Progression wäre bei Lindners Plan ausgehebelt. Der FDP-Mann hat Widerspruch aus seiner Steuerabteilung zu hören bekommen. Ob deshalb oder aus koalitionspolitischen Erwägungen: Auf dem Parteitag der FDP sprach Lindner nun nur noch davon, „möglicherweise“ diese Ausnahme einzuführen.
Jeder Minister hat seinen eigenen Führungsstil. Wolfgang Schäuble war als Finanzminister die Hierarchie wichtig. Er nahm die zuständigen Staatssekretäre oder allenfalls Abteilungsleiter ins Kreuzverhör. Wer nicht so gut wie der CDU-Politiker vorbereitet war, musste nacharbeiten.
Scholz gilt als Aktenfresser
Scholz gilt als ähnlich guter „Aktenfresser“, doch zu seiner Zeit hatten die Schulterklappen im Finanzministerium schon deutlich an Bedeutung verloren. Lindner wiederum soll den Stoff, um den es geht, ebenfalls gut kennen. So schnell er im Aufnehmen ist, so schnell kann er dem Vernehmen nach aber auch wieder die Lust an einem Thema verlieren. Vor allem dann, wenn es sich nicht so gut vermarkten lässt.
Mit ihren Personalentscheidungen prägen Minister die Leitungsebene ihres Hauses, auch über die eigene Amtszeit hinaus. Als Robert Habeck das Wirtschaftsministerium übernahm, baute er die Führungsspitze so schnell um wie kaum ein anderes Kabinettsmitglied. Staatssekretäre wurden Wegbegleiter, die zuvor in Brüssel, Berlin oder Schleswig-Holstein Politik für die Grünen gemacht hatten. Zum Chef der Abteilung II – zuständig für die Wärmewende – berief er einen Grünen, der zuvor eine auf Energie- und Umweltfragen spezialisierte Beratungsgesellschaft geleitet hatte.
Farbwechsel ohne Karriereknick
An anderer Stelle stiegen aber auch Mitarbeiter auf, die schon unter Habecks Vorgänger Peter Altmaier (CDU) im Ministerium waren – so etwa der heutige Abteilungsleiter für Strom und Netze, Volker Oschmann. Auch Philipp Steinberg hat schon mehrere Farbwechsel an der Ministeriumsspitze ohne Karriereknick überstanden. Sigmar Gabriel (SPD) holte ihn 2013 aus der SPD-Parteizentrale, erst als Büroleiter, dann als Leiter Wirtschaftspolitik. Das blieb Steinberg auch unter Altmaier und nach Habecks Amtsantritt. Heute leitet er die neue Abteilung für Wirtschaftssicherheit.
Im Finanzministerium rühmte sich einst Hausherr Wolfgang Schäuble, viele Andersdenkende auf ihren Positionen belassen zu haben, auch Abteilungsleiter, selbst den Haushaltsstaatssekretär Werner Gatzer mit SPD-Parteibuch. Doch mit der Zeit gab es aus unterschiedlichen Gründen den ein oder anderen Wechsel – und seine Leute sorgten dafür, dass CDU-Mitglieder nicht zu kurz kamen. Scholz kündigte seinerzeit an, aus dem Finanzministerium kein zweites Willy-Brandt-Haus machen zu wollen. Dafür fanden dann jedoch auffallend viele Leute mit SPD-Parteibuch den Weg ins Haus.
Operation Abendsonne
Lindner übernahm ein Ministerium, das von der Referatsleiterebene an frei von Parteifreunden war. Der letzte liberale Unterabteilungsleiter wurde noch in der Amtszeit von Scholz auf wenig freundliche Art aus dem Amt gedrängt. Lindner hielt ebenfalls lange an SPD-Staatssekretär Gatzer fest. Die Trennung erfolgte erst nach dem vernichtenden Karlsruher Urteil zum Nachtragshaushalt. Lindners Steuerstaatssekretärin Luise Hölscher ist eine CDU-Frau.
Doch mit der Zeit tauschte auch er mehr und mehr Abteilungsleiter aus. Auch auf der Ebene darunter finden sich nun auffällig viele FDP-Leute. Von einer „Operation Abendsonne“ ist in Berlin die Rede, wenn Minister vor der nächsten Wahl noch schnell Parteifreunde in Leitungspositionen berufen. Die nächste turnusgemäße Bundestagswahl ist zwar noch mehr als ein Jahr entfernt. In Berlin fühlt sie sich aber schon sehr nah an.