Es gab nicht nur Auschwitz – vergessene Orte des Holocausts in Osteuropa

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Über ganz Osteuropa erstreckte sich während des Holocausts ein Flickenteppich an Vernichtungsorten.

Haben Sie schon mal von dem Dorf Maly Trostinez bei Minsk gehört? Oder von dem Waldstück in Rumbula, einem Stadtbezirk im lettischen Riga? Die Schlucht Babyn Jar wiederum könnte einigen von Ihnen ein Begriff sein – für den Großteil der Deutschen dürfte aber auch das größte einzelne Massaker an den europäischen Juden unbekannt sein. Es gibt Hunderte solcher Vernichtungsorte im Baltikum, in Belarus oder der Ukraine, im gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, die in der deutschen Erinnerungskultur im Schatten von Auschwitz stehen.

Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau spielt ohne Frage eine maßgebliche Rolle in der Erziehung und Bildung junger deutscher Menschen. Täglich finden Klassenfahrten und Exkursionen in die polnische Kleinstadt Oswiecim statt – dorthin, wo die Nationalsozialisten mehr als eine Million Juden ermordeten. Auschwitz wurde weltweit zum Symbol der Shoah. Auch in Deutschland ist der Begriff Auschwitz allgegenwärtig mit dem Holocaust verbunden.

Doch das faschistische Morden erstreckte sich über ganz Osteuropa, es entstand ein regelrechter Flickenteppich an Konzentrations- und Vernichtungslagern: Sobibor, Treblinka oder Belzec im heutigen Polen, Maly Trostinez in Belarus oder Babyn Jar bei Kiew. Besonders die Orte auf dem Gebiet der Sowjetunion sind in der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung solch „vergessene Gedenkorte“. Kaum jemand außerhalb der historischen Expertenblase kennt die Orte des deutschen Verbrechens. Aber warum?

Es sind zwei Aspekte, die dem zugrunde liegen. Einerseits wird dem deutschen Erinnerungsdiskurs vorgeworfen, einen verengten Blick auf die eigene Geschichte zu haben. Auschwitz, das die Rote Armee am 27. Januar 1945 befreite, und die Novemberpogrome 1938 („Reichskristallnacht“) dürften der Mehrheit der Deutschen ein Begriff sein. Viele Berliner waren schon mal in Sachsenhausen, viele Münchner in Dachau, das KZ Buchenwald in Thüringen ist vor allem Ostdeutschen ein Begriff. Doch was ist mit den Hunderten von Waldlichtungen, Orten von Massenerschießungen und Schluchten jenseits der Oder? Ist Deutschland auf dem osteuropäischen Auge blind? Oder wollen sich Politik, Öffentlichkeit und auch Wissenschaft einfach nicht mehr mit dem Holocaust, der vor 80 Jahren stattfand, auseinandersetzen?

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Die Pforte der Erinnerung in Maly Trostinez bei Minsk

Ein weiterer Grund für all die vergessenen Vernichtungsorte hat mit den realpolitischen Gegebenheiten im östlichen Nachkriegseuropa zu tun. Im sozialistischen Polen, in der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion wurde anders an den Holocaust gedacht als im deutsch-deutschen Kontext. Das historische Narrativ des Siegermythos über Hitlerdeutschland übertrumpfte in der Sowjetunion alles. Für den Holocaust gab es in der sowjetisch geprägten Geschichtsinterpretation nur einen marginalen Platz. Der Massenmord an den europäischen Juden kam im kollektiven Gedächtnis der Sowjetbürger praktisch nicht vor – vielmehr wurden sie in Kategorien der „friedlichen sowjetischen Bürger“ integriert. Eine Singularität des Holocausts gab es nicht.

Das Beispiel von Maly Trostinez, einem Dorf gleich hinter dem Autobahnring in Minsk, veranschaulicht das Phänomen der unterschiedlichen Erinnerungsmuster in Ost und West sehr deutlich. Es war eine abgelegene Mordstätte, viel Birkenwald, keine zufällig vorbeilaufenden Einheimischen. Ein aus Zarenzeiten stillgelegtes Bahngleis wurde reaktiviert, die logistische Maschine des Mordens nahm unter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, dem SS-Sturmbannführer Adolf Eichmann und dem Generalkommissar Wilhelm Kube an Fahrt auf. Maly Trostinez war der größte Vernichtungsort auf dem Territorium der UdSSR, doch selbst für Belarussen war dieser Ort ein „weißer Fleck, eine Leerstelle“, wie der belarussische Historiker Piotr Rudkouski schreibt.

Denn bis in die 1990er-Jahre, als die Sowjetunion nicht mehr existierte, wussten viele Minsker schlichtweg nicht, was da in den 1940er-Jahren unweit des Stadtrings vor sich ging, nicht von den Zehntausenden ermordeten Berliner und Wiener Juden, nicht von den Juden aus dem Minsker Ghetto. Kein Mahnmal, kein Grabstein, keine Erinnerungstafel. Sowjetische Entscheidungsträger investierten vielmehr in die Heldendenkmäler der Roten Armee, die es in jedem belarussischen Dorf gibt. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wird bis heute – mit dem jährlichen Höhepunkt am 9. Mai – gefeiert, glorifiziert; er ist der maßgebende Bezugspunkt des sowjetischen Geschichtsverständnisses und im Fall von Belarus und Russland elementar für die eigene staatliche Identität.

Das, was in Maly Trostinez passierte, passte hingegen in das sowjetische Geschichtsnarrativ nicht hinein. Wie überall in Osteuropa deportierten die deutschen Besatzer auch mit Hilfe von einheimischen Kollaborateuren Juden aus dem nächstgelegenen Ghetto, was in Belarus, in der Ukraine oder im Baltikum lange tabuisiert wurde. Die wenigen Maly-Trostinez-Überlebenden aus dem Minsker Ghetto beschreiben den Gang in den Deportationszug mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch die Fahrt dauerte nur 15 Minuten, angekommen in Maly Trostinez wurden sie sofort erschossen.

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Improvisiertes Gedenken in Maly Trostinez: Nachfahren erinnern mit einfachen Din-A-4-Blättern an ihre jüdischen Urgroßeltern.

„In Maly Trostinez fand der ‚Holocaust by Bullets‘ statt“, sagt der belarussische Historiker Aliaksandr Dalhouski, der sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Gedenkort auseinandersetzt. Er meint damit die Dominanz des massenhaften Erschießens – konträr zu den logistisch ausgearbeiteten Vernichtungslagern in Polen. Auschwitz wurde beispielsweise für die Gaskammern bekannt. Allgemein kamen nur wenige Juden aus der Sowjetunion in die Lager nach Auschwitz oder Sobibor. Die meisten Juden aus Belarus, der Ukraine, dem Baltikum, Russland und Moldawien wurden vielmehr Opfer von solchen Massenerschießungen wie in Maly Trostinez.

Bis zur Befreiung von Minsk im Sommer 1944 mordeten die Nationalsozialisten mit ihren Helfershelfern. Spuren des Tötens wurden erst vertuscht, als sowjetische Streitkräfte wenige Kilometer vor Minsk standen. Die Behörden bezifferten die Zahl der Ermordeten auf 206.500. Am Ende fanden Rotarmisten nur noch Überreste, verbrannte Erde und mehrere Massengräber. In den Folgejahren wurde auf dem Areal ein Truppenübungsplatz errichtet, später eine Mülldeponie. Die sowjetische Gedenkkultur konzentrierte sich auf das Heldentum der Rotarmisten, die Befreiung von Auschwitz, die Sowjetfahne auf dem Reichstag. Spezifisch jüdische Opfer blieben unsichtbar, Maly Trostinez geriet in Vergessenheit – sowohl in der Sowjetunion als auch in Deutschland.

Erst durch eine Reportage des Kölner Journalisten Paul Kohl wurde Maly Trostinez im deutschsprachigen Publikum wahrgenommen, zumindest in Expertenkreisen. Den Vernichtungsort nannte Kohl „Auschwitz von Belorußland“. In der öffentlichen Wahrnehmung fand Maly Trostinez hierzulande aber auch dann keinen Platz. Erst durch jüdische und zivilgesellschaftliche Initiativen aus Österreich – in Maly Trostinez wurden besonders viele Juden aus Wien ermordet – und Deutschland wurden in den 2010er-Jahren erste Reisen nach Belarus organisiert. Nachkommen besuchten die wahrscheinlichen Sterbeorte ihrer Vorfahren; sie verbrachten in dem an Minsk angrenzenden Waldstück, in dem ihre Urgroßeltern nur wenige Augenblicke hatten, mehrere Stunden.

Im von Alexander Lukaschenko autoritär regierten Belarus erkannten auch die politischen Eliten in Maly Trostinez die Chance einer „gesamteuropäischen Gedenkstätte“. Schließlich waren die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen besonders Anfang der 2010er-Jahre auf einem guten Weg. Lukaschenko wusste zwischen Moskau und Brüssel zu lavieren und sah in Maly Trostinez einen Weg der Annäherung zu Deutschland und Österreich. Mit Russland herrschte hingegen immer wieder Streit: der sogenannte Milchkrieg, Flugverbote, Unstimmigkeiten bei Gas- und Öl-Deals, Kritik am russischen Georgienkrieg.

Der belarussische Staat engagierte sich, stellte erstmals Gelder zur Verfügung und wollte ein national-belarussisches Erinnerungsnarrativ schaffen. Vorher tabuisierte Themen wie die massenhafte Verfolgung europäischer Jüdinnen und Juden auf belarussischem Territorium wurden mit wichtigen sowjetischen Gedenkritualen verknüpft. Höhepunkt war der Bau eines Memorialkomplexes an den Orten der Massenerschießungen, den Lukaschenko im Sommer 2018 mit seinen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier und Alexander Van der Bellen einweihte. Zudem kamen ranghohe Regierungsvertreter aus Polen, Litauen und Tschechien.

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Eine geopolitische Sternstunde Lukaschenkos: die Einweihung der Gedenkstätte Maly Trostinez mit Frank-Walter Steinmeier und Alexander Van der Bellen.

Es war ein medialer und geopolitischer Coup für Lukaschenko, dass Steinmeier als erster deutscher Bundespräsident überhaupt nach Belarus reiste, um an der Gedenkzeremonie teilzunehmen. Im Staatsfernsehen gab es Liveübertragungen. Es entstand der Eindruck, der Holocaust werde in Zukunft auch in der belarussischen Erinnerung eine größere Rolle spielen. Dabei war Maly Trostinez eher Teil eines geopolitischen Kalküls, sich über ein gemeinsames Erinnern dem Westen anzunähern.

Lukaschenko wusste schon damals die Aufmerksamkeit zu nutzen und mahnte, es habe nicht nur Auschwitz gegeben. Das Potenzial von Maly Trostinez als integrativem Gedenkort im „Zentrum des europäischen Kontinents“ ist zwar gegeben, allerdings hat auch von belarussischer Seite die bildungspolitische Unterstützung gefehlt. In Schulklassen, Bibliotheken und der Öffentlichkeit dominiert weiterhin der Siegermythos. Spätestens nach den landesweiten Belarus-Protesten 2020 und dem Ukrainekrieg ist Maly Trostinez in Belarus wieder in Vergessenheit geraten.

Ein tiefgreifender Paradigmenwechsel – den Vernichtungsorten im Osten Europas mehr Aufmerksamkeit zu schenken – blieb aber auch innerhalb der deutschen Erinnerungskultur aus. Erst kürzlich sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, bei einer Antisemitismus-Konferenz: „Was bringt es, wenn Schulklassen jedes Jahr nach Auschwitz fahren, die Lehrkräfte aber, die tagtäglich mit den Kindern und Jugendlichen zugegen sind, selbst kaum was über die gewaltigen Dimensionen des Holocausts wissen?“ Ob deutsche Lehrkräfte von Maly Trostinez schon einmal gehört haben?

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