Brief aus Istanbul: Machen Sie in diesem Sommer Urlaub in der Türkei?
Präsident Erdoğan Ende 2019 mit dem „nationalen und einheimischen“ Automobil TOGG, das er zu Propagandazwecken herstellen lässt
Vielleicht erinnern Sie sich an einen meiner vorangegangenen Briefe: Wir können kaum noch Urlaub im eigenen Land machen. Da Erdoğans Wirtschaftspolitik auch im Tourismus deutliche Spuren hinterlässt, fällt es uns schwer, die extrem gestiegenen Kosten für Reise und Unterkunft aufzubringen. Wer ein Visum ergattern kann, macht statt in Antalya oder Bodrum lieber im benachbarten Griechenland Urlaub, ohne ausgenommen zu werden, und genießt dort dasselbe Meer oder die Ägäis für fast die Hälfte des Preises. Nicht nur für uns ist das Meer teuer geworden. Auch Sie kamen ja früher wegen der günstigen Preise in die Türkei, jetzt aber lohnt es sich auch für Sie nicht mehr.
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Laut einer britischen Studie ist unter den Top Ten günstiger Urlaubsziele keine einzige türkische Region mehr zu finden. Selbst für Luxusdestinationen wie die spanische Costa Brava oder das italienische Amalfi gibt es günstigere Pauschalangebote als für die Türkei. In Griechenland kommen Sie mit drei bis fünf Euro für Sonnenschirm und Liege an den Strand. Dafür hören Sie in der Türkei nicht einmal die Wellen rauschen. In Bodrum etwa kostet der Zutritt zu einem Beachclub stolze 75 Euro. Und damit nicht genug. Am Strand kommen Ausgaben von mindestens 150 Euro hinzu. Ein paar Snacks und Cocktails und Ihr Budget ist erschöpft.
Neben Urlaub ist auch Shopping in der Türkei nicht mehr so günstig, wie Sie es in Erinnerung haben. Aufgrund der hohen Inflationsrate sind etliche Artikel teurer als in Europa. Der jüngsten Statistik zufolge gingen die Einkäufe von Ausländern in der Türkei 2023 im Vergleich zu den Vorjahren um bis zu 40 Prozent zurück. Die Türkei war vor ein paar Jahren so attraktiv, dass Menschen aus Bulgarien und Griechenland zum Einkauf in grenznahe türkische Städte kamen. Seit die Inflation bei den Lebensmittelpreisen in der Türkei zehnmal so hoch ist wie in den OECD-Ländern, ist es still geworden an unseren Grenzübergängen.
Selbst für Euro-Verdiener ist es bei uns teuer geworden, da können Sie sich vorstellen, welch eine Hölle es für Menschen ist, die nur türkische Lira zur Verfügung haben. Vorletzte Woche stürzten sich im Abstand weniger Tage zwei Personen in einem der Einkaufszentren in den Tod, wo sie sich kaum noch einen Schaufensterbummel leisten konnten. Laut Report der größten Oppositionspartei setzten in den letzten 20 Jahren über 5.000 Menschen in der Türkei aus Existenznot ihrem Leben ein Ende. Wegen der Inflation, offiziell bei 70 Prozent, können wir uns kaum richtig satt essen, geschweige denn shoppen gehen. Nach Angaben der Planungsagentur der Stadt Istanbul schränken sich drei von fünf Einwohnern beim Einkauf von Lebensmitteln ein. Und 52 Prozent können nur die Mindestrate ihrer Kreditkartenschulden oder weniger begleichen.
Bülent Mumay
Der letzte Trumpf der Regierung
Die Armut wirkt sich auch auf den Nachwuchs aus. 62,4 Prozent der Kinder in der Türkei ernähren sich von Brot und Nudeln. Nur bei 12,7 Prozent gibt es jeden Tag rotes oder weißes Fleisch oder Fisch. Das Palastregime hatte für dieses Jahr kostenlose Schulspeisung versprochen, gab den Plan aber wieder auf, weil das Budget nicht reiche. Den Kindern verweigert der Palast eine Mahlzeit pro Tag, lebt aber selbst auf großem Fuß. Erdoğans 1000-Zimmer-Palast verschlang in den ersten drei Monaten des Jahres rund 64 Millionen Euro, das entspricht ungefähr 130.000 Mindestlöhnen. Er gibt also pro Minute einen Mindestlohn aus. Der Monatslohn, mit dem über die Hälfte der Bevölkerung auskommen muss, reicht dem Palast für gerade einmal 60 Sekunden. Auch der Leiter der staatlichen Religionsbehörde Diyanet lebt von unserem Geld in Saus und Braus. Der Diyanet-Vorsitzende betete zwar bei der Einführung des „nationalen und einheimischen“ Automobils TOGG, das Erdoğan zu Propagandazwecken herstellen lässt, fährt aber selbst lieber einen Audi A8 L, dessen Verkaufspreis in der Türkei über 450.000 Euro liegt.
Unsere islamistische Regierung hat es nicht nur auf unser Geld abgesehen. Letzte Woche stellte sie einen neuen Lehrplan vor, mit dem sie die Kinder einer Gehirnwäsche unterziehen will. Die Inhalte der naturwissenschaftlichen Fächer sollen in Übereinstimmung mit dem Religionsunterricht gebracht werden; im Lehrplan fehlen sowohl Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, wie auch das Laizismus-Konzept. Integralrechnung wurde gestrichen, aber der Begriff Dschihad aufgenommen. Wenn sie schon die Wirtschaft nicht wieder aufs Gleis gesetzt bekommt, hofft die Regierung nach dem Debakel bei den letzten Kommunalwahlen, ihre Verluste unter Ausnutzung der Religion auszugleichen, dem letzten Trumpf, den sie noch in der Hand hat, auszugleichen. Genau wie bei der Israel-Politik.
Im Palast liegen die Nerven blank
In den letzten Briefen hatte ich beschrieben, wie Erdoğan das Rad in der Israel-Politik dreht, um die an die radikal-islamistische Neue Wohlfahrtspartei verlorenen Stimmen zurückzuholen. Nach den Militäreinoperationen Israels in Gaza hatte Erdoğan zunächst kein Ohr für die Rufe nach Aussetzung des Handels mit Israel und ließ einen ihm eng verbundenen Unternehmer weiter Waren im Wert von rund fünf Milliarden Euro jährlich nach Israel liefern, darunter auch solche, die auf Schiffen seines Sohnes transportiert wurden. Nachdem den Kommunalwahlen im März sah die Erdoğan-Regierung sich gezwungen, den Export nach Israel einzuschränken, und stoppte die Ausfuhr von 54 Produkten. Anschließend empfing Erdoğan den Hamas-Chef in der Türkei und das Außenministerium entschied, sich der Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof anzuschließen.
Zur gleichen Zeit stellte ein Türkei-stämmiger deutscher Journalist aus der Delegation von Bundespräsident Steinmeier, der mit seinem Döner in die Türkei gereist war, Erdoğan eine Frage, wie sie Journalisten in der Türkei nicht gestattet ist. Erkan Arıkan, Leiter der türkischen Redaktion der in der Türkei verbotenen Deutschen Welle, richtete auf der Pressekonferenz auf Deutsch folgende Frage an Erdoğan: „Sie bezeichnen Netanjahu … als würde er Nazi-Methoden anwenden, gleichzeitig aber halten Sie die intensiven Handelsbeziehungen zu Israel aufrecht – und zwar sehr fest. Wie können Sie das erklären?“ Erdoğan vernahm die Frage mit Erstaunen und beantwortete sie knapp und klar: „Wir halten die intensiven Handelsbeziehungen nicht mehr aufrecht, das ist vorbei.“ Es war aber nicht so, wie Erdoğan sagte. Bei einem späteren Beschluss, den Erdoğan nach wachsender Kritik fasste, stellte sich heraus, dass „das“ keineswegs vorbei war. Nun erst entschied Erdoğan, über den Stopp der 54 Produkte hinaus sämtliche Handelsbeziehungen zu Israel auszusetzen.
Mit seiner Frage dürfte Erkan Arıkan die Beamten im Palast verärgert haben, er brachte gewissermaßen auf den Punkt, warum die Presse in der Türkei in die Mangel genommen wird. Erdoğan lässt Journalisten, die ihm solche Fragen stellen, nicht an sich heran und verhindert, dass sie akkreditiert werden, er lässt nicht einmal zu, dass sie für traditionelle Medien arbeiten oder einen Presseausweis bekommen. Als Türkei-stämmiger deutscher Journalist in Steinmeiers Delegation konnte Arıkan die Frage frei stellen. Er kam dafür nicht wie hiesige Journalisten ins Gefängnis, verlor nicht seinen Job, war aber hässlichen Beleidigungen palastnaher Federn ausgesetzt. Ein Kolumnist, der jahrelang Reden für Erdoğan schrieb, nannte Arıkan einen „freiwilligen Agenten, einen Köter, der bellt, um seinen Herrn zufriedenzustellen“. Offenbar lagen im Palast die Nerven blank, weil so viele Wählerstimmen verloren gingen und darüber hinaus die Milliarden aus Israel.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.