Jean-Claude Juncker: Wer mit Putin verhandelt, wird scheitern

jean-claude juncker: wer mit putin verhandelt, wird scheitern

„Europäisches Schlachtross“: Jean-Claude Juncker 2019

Aus der Slowakei erreichen uns alarmierende Nachrichten: Ein Sozialdemokrat ist zum Präsidenten gewählt worden, der die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland auffordert. Deutsche Politiker wie der CDU-Außenexperte Röttgen fordern den Austritt der Slowakei aus der EU. Wie geht man aus Ihrer Sicht am besten mit Putin-Sympathisanten in europäischen Chefsesseln um?

Ich war auch lange ein Sympathisant von Putin, bis er die Krim überfallen hat. Ich bin aber seitdem überhaupt kein Sympathisant von denen, die in der Europäischen Union gegen die gemeinsame Beschlusslage den Eindruck vermitteln, sie wären eher auf der Seite von Putins Regime als auf der Seite der angegriffenen Ukraine. Was kann man dagegen tun? Eigentlich kann man dagegen nicht viel mehr tun, als die Empfangsgeräte abstellen. Die Position der Europäischen Union muss klar sein. Wir sind gegen den Überfall Russlands, wir sind gegen die Verletzungen des internationalen Rechts.

Wenn wir heute, zwei Jahre nach Putins Überfall auf die Ukraine, auf den Krieg schauen, müssen wir nicht feststellen, dass die EU als Vermittlerin versagt hat?

Erstens: Wer versucht, nach dem, was wir jetzt wissen, Putin in subtile Vermittlungsgespräche einzubinden, der wird scheitern. Es hat ja das Minsker Abkommen gegeben. Da stand das Wesentliche drin, was von der Ukraine und auch von Russland zu beachten gewesen wäre. Diese Vereinbarungen wurden vornehmlich von Russland nicht beachtet. Das heißt: Dieser Vermittlungsversuch der Europäischen Union, damals angeführt von Angela Merkel und François Hollande, ist nicht gescheitert. Gescheitert ist die Zuverlässigkeit auf Seiten Moskaus.

Merkel und Hollande – da schien das deutsch-französische Verhältnis noch einigermaßen intakt. Wie schädlich ist die gestörte Beziehung zwischen Scholz und Macron für die EU als Ganzes?

Wissen Sie, ich bin ja ein altes europäisches Schlachtross. Insofern bin ich diese immer wieder auftauchende Abkühlung des deutsch-französischen Verhältnisses gewohnt. Ich habe jahrelang in der Atmosphäre dauernder Zwistigkeiten zwischen Berlin und Paris gelebt. Wir haben es immer wieder geschafft, die Standpunkte beider Länder einander anzunähern. Ich bin da weniger aufgeregt als viele, denen die Langzeitperspektive fehlt und die Vorstellungskraft abgeht. Aber gut ist es nicht, dass der öffentliche Eindruck entsteht, als ob beide, Scholz und Macron, sich weniger gut verstehen als ihre Vorgänger. Man könnte sich durchaus ein bisschen erkennbarer die Hand geben.

Sollte die EU mit Blick auf die Ukraine eher den defensiven Scholz-Kurs oder den offensiven Macron-Kurs fahren?

Es wäre der EU zu raten, ihre Mitglieder zu bitten, nicht mit öffentlichen Vorschlägen vorzupreschen, die nicht mit den anderen Partnern in der Europäischen Union abgesprochen sind. Wer dies dennoch tut, der macht sich schuldig, ob bewusst oder unbewusst, das Spiel von Putin mitzuspielen. Ich bin der Auffassung, dass man in einem so zugespitzten Konflikt nie sagen sollte, was man nicht tut, weil das das Geschäft des Gegners, in diesem Fall Putin, vereinfacht. Ich bin aber auch dagegen, dass man europäische Soldaten in die Ukraine schickt. Dies würde einen Schaden provozieren, der lange anhalten könnte. Wir sollten unseren Kindern und Kindeskindern nicht zumuten, dass sie in einer Kalter-Krieg-Atmosphäre aufwachsen, die sich immer stärker erhitzen würde.

Mit Blick auf die militärstrategisch bedeutender werdende Stellung des Baltikums und Polens: Verschiebt sich das Zentrum Europas gerade nach Osten?

Nein. Es haben sich die Herausforderungen verschoben, vor denen die Europäische Union steht. Die größte Bedrohung für die Stabilität unseres Bündnisses kommt aus Moskau. Insofern sind die direkten Nachbarn Russlands stärker betroffen als etwa die Portugiesen oder Malteser. Insofern verschiebt sich nicht das Gewicht der Europäischen Union nach Osten, sondern es hat sich die Pro­blemlage verschoben, und auf diese Lage reagieren wir, weil wir unsere ost- und mitteleuropäischen Freunde nicht im Regen stehen lassen.

Sie haben die europäische Verteidigungspolitik als „in einem embryonalen Zustand befindlich“ beschrieben. War das auch Selbstkritik? Immerhin hat Donald Trump während Ihrer Zeit als Kommissionspräsident darauf hingewiesen, dass Europa zu wenig für seine Sicherheit ausgibt. Fühlen Sie sich persönlich mitschuldig an diesem „embryonalen Zustand“?

Der erste amerikanische Präsident, mit dem ich Gespräche über Europas Verteidigungsetat geführt habe, war Bill Clinton. Ich habe derartige Gespräche mit Bush junior und Obama geführt, dann mit Trump. Es ist eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik, dass sie sich über das Engagement der Europäer in Sachen eigene Verteidigung beschweren. Ich habe schon 2015 sehr engagiert für die Schaffung einer europäischen Armee plädiert. Damals wurde ich dafür beschimpft. Jetzt stellt sich heraus, dass diese Vorstellung nicht so abwegig war. Im Übrigen fühle ich mich überhaupt nicht wohl in meinen Schuhen, weil ich mit zu denen gehörte, die von der Friedenshoffnung, die sich im Laufe der Neunzigerjahre in Europa ausgebreitet hat, überzeugt war. Putin hat das unter dem Applaus aller Fraktionen im Bundestag 2001 auch in Aussicht gestellt, sodass ich wirklich der Auffassung war, der Kalte Krieg sei vorbei. Ich war hoffnungsvoll, dass wir in eine glänzende Zukunft gehen würden. Deshalb habe ich mir die Alarmsignale, die vor allem aus Mitteleuropa kamen, nie wirklich zu Herzen genommen. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass Moskau militärisch in Mitteleuropa agieren würde. Das mache ich mir zum Vorwurf. Ich war naiv, die Mitteleuropäer hatten Recht.

Wenn Sie in Europas Zukunft schauen, wovor haben Sie am meisten Angst?

Ich habe Angst vor den Folgen, die aus historischer Vergesslichkeit resultieren könnten. Klein ist inzwischen in Europa die Zahl derer, die noch über direkte Kriegserfahrung aus den Jahren 1939 bis 1945 verfügen. Kleiner wird die Zahl der erwachsenen Söhne der Kriegsgeneration. Es gibt kaum noch jemanden unter denen, die aktuell in Europa regieren, die zu Hause noch über Kriegserfahrungen reden. Ich glaube: Nichts ist schlimmer, als wenn man das Schlimme vergisst. Es ist uns nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelungen, in Europa den Krieg weitestgehend zu verhindern. Es ist uns gelungen, aus dem ewigen Nachkriegsgebet „Nie wieder Krieg” ein politisches Programm zu entwerfen, das bis heute in unserem Teil Europas seine andauernde Wirkung zeigt. Wir dürfen uns nicht irre machen lassen von denjenigen, die denken, die Europäische Union wäre zu teuer und es wäre einfacher und billiger, im nationalen Eingang Politik zu gestalten. Eine Stunde Krieg ist teurer als zehn Jahre EU.

Und doch: Was muss sich am EU-Kon­strukt ändern, damit die wachsende Zahl der Antieuropäer wieder zurückgeht? Hilft da das alte Mantra vom Krieg wirklich noch, oder braucht es neue Anreize für den Glauben an Europa?

Ich habe über viele Jahre immer wieder das Thema Krieg und Frieden, die Beschreibung dieses ewigen europäischen Dilemmas, thematisiert, und viele haben mir gesagt: „Hör auf, das interessiert niemanden mehr.“ Ich glaube aber, es interessiert heute wieder viel stärker, nach den Vorgängen in der Ukraine entsteht eine neue Sensibilität für das Menschheitsthema Krieg und Frieden. Im Übrigen denke ich, dass wir, um das im direkten Deutsch zu sagen, zu „lahmarschig“ geworden sind, weil wir uns ungenügend für die Befindlichkeiten außerhalb unseres eigenen Landes interessieren. Was wissen wir Deutsche und Luxemburger über die Litauer? Was wissen wir über die Schweden? Wir lieben uns nicht genug in Europa, um uns so füreinander zu interessieren, wie wir es tun müssten, um aus diesem Reichtum Europas, der sich aus den verschiedensten Quellen speist, eine Kraft zu machen, die den Kontinent eint.

Wenn Sie heute auf Deutschland schauen: wirtschaftlich schwächelnd, innenpolitisch zerstritten, vom Populismus bedroht. Welchen Rat haben Sie für dieses Land?

Mein Rat wäre: durchhalten. Mein Rat wäre: Nicht auf jede Aufregung so reagieren, dass die Aufregung noch größer wird. Mein Rat wäre: strikt am proeuropäischen Kurs festhalten. Mein Rat wäre: Interesse für andere aufzubringen, sich selbst immer wieder in tugendhaften Vergleich mit anderen Teilen der Welt bringen. Ich bin überzeugt: Deutschland ist nicht am Ende.

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