«Boomer» heisst in Italien «dottore». Wie schaffen es die italienischen Männer, so würdevoll zu altern?
Lederschuhe, eine anständige Hose, dazu Veston, Hemd, Zeitung: Italiens ältere Herren lassen sich nicht gehen. ; Universal Images Group / Getty
Wer Italien schon länger bereist, kommt nicht um die Feststellung herum, dass sich die Bevölkerung in den letzten Jahren verändert hat. Das Demografieproblem, unter dem das Land in besonderem Mass leidet, genauer: die rasch fortschreitende Überalterung, ist sicht- und spürbar. Gerade sind die neusten Zahlen bekanntgeworden: Im letzten Jahr wurden in Italien rund 379 000 Kinder geboren, so wenige wie noch nie seit der nationalen Einheit von 1861. «Demografischer Winter», so nennen das die Experten. Bei einem Treffen mit italienischen Wirtschaftsführern hat Papst Franziskus die Familiengründung kürzlich zur «patriotischen Pflicht» erklärt, ohne die das Land nicht vorankomme.
Keine Frage, Italien altert – aber die Welt schaut dabei gerne zu. Populäre Instagram-Seiten zeigen schmucke Dörfer, wo nur wenige und dazu eher reife Menschen wohnen, verlassene Strände mit vereinzelten Besuchern, die versonnen aufs Meer schauen und dabei, so macht es den Eindruck, übers Leben nachdenken. «Vita lenta», langsames Leben, heisst etwa ein bekannter Account, der das gemächliche Tempo des Alltags am Mittelmeer feiert. Ein anderer nennt sich «Pasta Grannies» und filmt Grossmütter, die nach alter Sitte Teigwarengerichte zubereiten – in Küchen zudem, wo Hightech-Maschinen nichts verloren haben.
Laut und jung war früher
Zeigt sich darin vielleicht eine neue Italiensehnsucht? Das Bedürfnis nach einem Land, das von der Moderne nichts wissen will, einen anderen, langsamen Rhythmus gefunden hat – und dazu gut isst und trinkt? Wo Ruhe herrscht und Bedächtigkeit?
Es ist noch nicht lange her, da galt Italien als laut und jung. Es war das Land der Grossfamilien mit ihren unzähligen «bambini». Sie waren überall, in den überfüllten Zügen auf dem Weg ans Meer, abends am langen Tisch in der Osteria oder dann am Strand, braungebrannt, in Badehose, mit Schnorchel und Ball bewehrt, dazu ein Haufen Freundinnen und Freunde.
Jetzt sind die letzten Italiener zu besichtigen, wie der Titel eines erfolgreichen Sachbuches lautet, in dem der Statistiker Roberto Volpi darlegt, wie die Italiener wegen dramatisch sinkender Geburtenraten zu einem der am stärksten vom Aussterben bedrohten Völkern der Welt geworden sind.
Das sind keine guten Perspektiven, weder wirtschaftlich, sozial noch kulturell und geistig. Die Politik hat noch kein Mittel gegen die Überalterung gefunden. Die regierende Rechte nicht, die die traditionelle Familie fördern will und der Ansicht ist, der Klimaaktivismus habe den Jungen die Aussicht auf eine eigene Familie vermiest, die Linke nicht, die will, dass der Staat mehr für Kinderbetreuung zahlt, und findet, die tiefe Geburtenrate sei auf tiefe Löhne zurückzuführen.
Nur einer nimmt die Überalterung mit Gelassenheit: der ältere Herr selbst. Er sitzt auf der Parkbank oder schlendert durch die Strassen, er hält ein Schwätzchen auf dem Markt, er steht am Tresen seiner Bar, verabredet sich zum «aperitivo» mit alten Freunden und Kollegen – und geht abends früh nach Hause. Natürlich gibt es auch die ältere Frau, aber sie ist weniger sichtbar im öffentlichen Raum – ein Phänomen für sich.
Hobbys: Baustellen besichtigen und Zeitung lesen
Wohlgemerkt: Gemeint ist nicht der Typ Flavio Briatore, der altersmässig auch in diese Kategorie gehören würde – kein Playboy also mit offenem Leinenhemd, ledriger Haut, Motorjacht. Die Rede ist auch nicht von Männern wie Silvio Berlusconi, die sich auch mit über siebzig noch für umwerfend attraktiv halten, die Haare färben und unters Messer legen. Es geht auch nicht um den Quartierboss mit Sonnenbrille und offenem Wagen. Und auch nicht um die meist angestrengt modischen Typen an der grossen Herren-Modemesse im Palazzo Pitti in Florenz, die dem Grau ihrer Haare oft mit chemischen Mitteln nachhelfen.
Weniger entspannt als viele seiner Altersgenossen: Silvio Berlusconi in seinen alten Tagen. ; Piero Cruciatti ;/ Anadolu / Getty
«Unser» älterer Herr ist von anderer Wesensart, und er kommt weitaus zahlreicher vor als die gerade geschilderten Figuren. Er ist eine angenehme, meist freundliche und höfliche, manchmal rührende Gestalt, nicht unelegant, aber auch nicht übertrieben zurechtgemacht. Er trägt meist Lederschuhe, eine anständige Hose, dazu ein Veston, ein Hemd, darüber, wenn es kühl ist (und das ist es nach italienischem Verständnis bei Temperaturen von unter 20 Grad), einen Pullover. Nicht wenige dieser Herren tragen eine Brille, mitunter in etwas exzentrischen Farben, mit rotem oder gelbem Gestell, das in den (echten) grauen Haaren steckt.
In Rom sieht man sie frühmorgens zum Zeitungskiosk gehen, wo sie beim Händler ihres Vertrauens die Römer Stadtzeitung kaufen. Der ältere Herr ist informiert, nicht selten verfügt er über einen akademischen Grad. In Rom gibt es zahlreiche ältere Privatgelehrte, die in den reichen Archiven der Stadt zu tun haben oder auch nach ihrer Pensionierung Studienaufträgen nachgehen.
Aber nicht nur: Untervarianten unseres «älteren Herrn» gibt es überall. Mancher «barista» strahlt etwas von der Würde eines «dottore» aus, und mancher Metzger würde als «professore» mühelos in einen Hörsaal einer Universität passen.
Und dann gibt es den «umarell». Er kommt auch nördlich der Alpen vor und ist von der äusseren Erscheinung her etwas weniger elegant, Typus Senior mit Bequemschuhen und Windjacke. Sein Zeitvertreib besteht in der Besichtigung von Baustellen, die in Rom und anderswo äusserst zahlreich sind (und mitunter ewig anhalten). Das Wort «umarell» stammt aus Bologna, war ursprünglich abwertend gemeint, wie Italiens massgebende Enzyklopädie erklärt, und bezeichnet einen kleinen anonymen Mann, der in der Stadt umherwandert. Seit der Begriff vor knapp zwanzig Jahren in einem populären Blog verwendet wurde, ist er überall in Italien geläufig.
Bleiben wir noch kurz in Bologna, aber kehren wir zurück zu unserem älteren Herrn: Die Stadt in der Emilia-Romagna ist der ideale Ort für seinen Auftritt. Bologna ist gleichsam sein natürliches Habitat. Die kilometerlangen Lauben der Stadt bieten ihm Schutz vor Regen und allzu starker Sonneneinstrahlung, im Schatten lässt es sich trefflich plaudern und die Zeit vertreiben. Dazu gibt es zahlreiche Plätze, auf denen man sich bei angenehmem Wetter treffen kann. Der frühere Ministerpräsident Romano Prodi, der aus Bologna stammt, ist denn auch so etwas wie die idealtypische Verkörperung des älteren Herrn.
Respekt für den Professore aus Bologna: Auf Romano Prodi hören die Italiener immer noch, wenn er sich zur Politik äussert – trotz oder wegen seiner 84 Jahre. ; Antonio Masiello / Getty
Mit massgeschneiderten Anzügen auf der Piazza
Dass es ihn in der geschilderten Form so zahlreich gibt in Italien, hat neben der Demografie noch andere Gründe. Einer liegt in der Kulturgeschichte. Italien ist, vor allem im Norden und in der Mitte, ein städtisch geprägtes Land. Nach wie vor fühlen sich die Menschen stark mit ihrer Heimatstadt verbunden. Für sie empfinden sie Stolz und Verantwortungsgefühl.
In der öffentlichen Debatte ist manchmal abschätzig von Kirchturmpolitik die Rede, aber es geht um mehr als Lokalpatriotismus. Es geht um Eigenständigkeit, Identität und Zugehörigkeit. Verhandelt wird all das auf der Piazza. Sie ist der öffentliche Raum, der Ort, wo sich die Bürger treffen, der Platz, der nach der gepflegten Erscheinung verlangt. Wer hier, im repräsentativen Wohnzimmer der Stadt, mitreden will, kann nicht daherkommen wie jemand, der gerade dem Bett entstiegen ist und noch nicht geduscht hat.
Das gilt für alle. Jeder, auch der einfache Mann, kann sich als «signore» einkleiden. «Verbessert euch selbst und die anderen: Das ist der erste Zweck, und es ist die höchste Hoffnung jeder Reform, jeder sozialen Veränderung», sagte der Revolutionär Giuseppe Mazzini. Etwas von dieser Haltung sieht man beim älteren Herrn unserer Tage.
Ein anderer Grund ist praktischer Natur. Er besteht, kurz gesagt, im guten Angebot. Nach wie vor gibt es in Italien eine grosse Zahl an Bekleidungsgeschäften für den gepflegten Mann. Die Camiceria Mattioli ist eines davon. Seit 1966 gibt es dieses kleine Geschäft in der Via della Stelletta in Rom, mitten im Zentrum, in der Nähe des Pantheons. Das Ehepaar Mattioli hat es gegründet, als sie noch ganz jung waren. Noch heute stehen sie zusammen mit ihrem Sohn jeden Tag im Geschäft, tadellos gekleidet. Sie führen immer dasselbe klassische Angebot: beste Stoffe, nicht ganz billig, die sie je nach Wünschen und Vorlieben ihrer Kunden zu Hemden oder Anzügen schneidern. Modeströmungen gehen an ihnen vorbei, dafür zählen Konstanz und Qualität.
Die Mattiolis verfügen über eine stabile Stammkundschaft. Auf Karteikarten stehen die Masse der Kunden: Hals, Brust, Bauch, Schritthöhe. Wer mit den Jahren etwas an Gewicht und Umfang zulegt, muss keine Sorgen haben. Hier hat man Verständnis für alle jene, die gerne und gut essen. Diskret werden die Daten angepasst, das Gilet wird dann halt etwas grösser geschneidert. Zu den Kunden zählen auch Ausländer, die, wenn sie in Rom sind, vorbeischauen und einkaufen. Der Schriftsteller Martin Suter und sein Verleger Philipp Kehl vom Diogenes-Verlag in Zürich etwa lassen sich hier Anzüge und Hemden massschneidern.
Kleine Geschäfte wie dasjenige der Mattiolis in Rom gibt es nach wie vor viele, landauf, landab, teurere und günstigere. Sie sorgen dafür, dass der ältere Herr sichtbar bleibt als angenehme und entspannte Erscheinung, der man mit Respekt begegnet.
Kein Zweifel, Italien meint es gut mit ihm. Wo sonst wird er auch ohne akademische Würden «dottore» genannt?