Ukraine-Krieg: „Zehn Millionen Flüchtlinge sind eine konservative Schätzung“

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Flüchtlinge aus der Ukraine data-portal-copyright=

Zwei Jahre nach Russlands Invasion droht die westliche Unterstützung für die Ukraine zu wackeln. Muss sich Deutschland auf noch mehr Flüchtlinge vorbereiten, sollte die Ukraine den Krieg verlieren?

Vor zwei Jahren hat Russland die Invasion in der Ukraine begonnen. Es folgte nicht der vom Kreml erhoffte rasche Sieg, die Ukraine wehrte sich und eroberte Teile des von Russland besetzten Gebiets zurück. Inzwischen herrscht ein zermürbender Stellungskrieg, in dem der Ukraine zunehmend die Munition ausgeht – und die Unterstützung des Westens nachzulassen droht.

Was passiert, wenn die Ukraine den Krieg verlieren sollte? Wie viele Flüchtlinge müsste Deutschland dann aufnehmen – und was wären die Folgen?

Im Fall einer vollständigen Niederlage der Ukraine warnt Franck Düvell, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, vor einer weiteren großen Fluchtbewegung. „Man müsste damit rechnen, dass 35 bis 75 Prozent der Menschen, die jetzt noch in der Ukraine leben, fliehen würden“, sagt Düvell. Die „Welt am Sonntag“ hatte zuletzt berichtet, dass die Bundesregierung bei einem Zerfall der Ukraine von zusätzlich etwa zehn Millionen Flüchtenden ausgeht.

„Zehn Millionen sind eine sehr konservative Schätzung“, sagt Düvell. „Ich würde die Zahl durchaus bei zwölf bis 20 Millionen ansetzen. Wir wollen das nicht hoffen, aber das kann passieren.“ Ein solches Szenario wäre „eine ganz neue, eine extreme Situation“.

Der Migrationsexperte sagt, bei einer vollständigen Niederlage der Ukraine könnte wie auch bisher etwa ein Fünftel der Flüchtenden nach Deutschland kommen – auch weil viele Menschen hier bereits Familie und Freunde hätten. „Das ist die erste Anlaufstelle“, sagt Düvell. Im Extremfall wären das 2,4 bis vier Millionen Menschen.

///„Deutschland müsste sich von vielen Standards verabschieden“ // .

In einem solchen Szenario müsste Deutschland nach Ansicht von Birgit Glorius, Migrationsforscherin an der TU Chemnitz, seine Integrationspolitik grundsätzlich überdenken. „Man müsste sich hier von vielen Standards verabschieden, um so eine Masseneinwanderungssituation zu stemmen“, sagt Glorius. Das bedeute etwa schnellere Aufnahme- und Berufsanerkennungsverfahren, einen flexibleren Wohnungsbau und größere Schulklassen.

Allerdings handelt es sich laut Forscher Düvell dabei um ein Extremszenario. Würden dagegen nach Kriegsende große Teile des Landes unter ukrainischer Kontrolle bleiben, rechnet der Experte mit einer „vielleicht verzögerten, aber dann immer stärker zunehmenden Rückkehrmigration“. Letztlich hänge die Zahl der ukrainischen Geflüchteten davon ab, welche Gebiete Russland dauerhaft unter seine Kontrolle bringe.

Seit Kriegsbeginn sind nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR knapp 6,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, ein Großteil davon nach Europa. Hinzu kommen demnach mehrere Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine. In Deutschland leben aktuell laut Bundesinnenministerium 1,14 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine.

Die meisten Menschen sind bereits 2022 nach Deutschland gekommen. Wie das Statistische Bundesamt vor Kurzem mitteilte, ist die Nettozuwanderung aus der Ukraine im vergangenen Jahr auf etwa 120.000 Menschen deutlich gesunken.

Magdalena Nowicka, Integrationsexpertin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), ist der Ansicht, dass Deutschland noch Kapazitäten hat, ukrainische Geflüchtete aufzunehmen – auch wenn einzelne Kommunen an ihrer Belastungsgrenze seien. „Das Problem ist, dass die Verteilung – auch in Europa – ungleich ist“, sagt Nowicka.

///„Ermüdungserscheinungen“ bei der Akzeptanz // .

Dabei ist die Bereitschaft in der deutschen Bevölkerung, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen, weiterhin groß, hat seit Kriegsbeginn aber etwas abgenommen. Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung unterstützten im September noch 70 Prozent der Befragten in Deutschland die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten. Im März 2022 waren es 86 Prozent.

„Am Anfang war die Empathie mit den Geflüchteten aus der Ukraine sehr groß, gerade im Vergleich zu der Akzeptanz der Geflüchteten, die 2015 gekommen sind“, sagt Migrationsforscherin Glorius. „Über die Jahre können wir aber eigentlich die gleichen Ermüdungserscheinungen in der Gesellschaft sehen.“

Experten gehen davon aus, dass in den kommenden Monaten immer mehr ukrainische Geflüchtete eine Arbeit aufnehmen. Wenn Geflüchtete nach erfolgreich absolvierten Sprachkursen einen Job annähmen, sei das eine Entlastung im „doppelten Sinne“, sagt Düvell. „Erstens, weil die Kommunen nicht mehr für sie bezahlen müssen, und zweitens, weil die Geflüchteten dann Steuern zahlen.“

Nach jüngsten Zahlen lag die Beschäftigungsquote ukrainischer Geflüchteter bei rund einem Fünftel. Keine sonderlich hohe Quote nach zwei Jahren. Flüchtlingsexpertin Nowicka sagt, die Integration in den Arbeitsmarkt sei ein langer Prozess. Aber mit Blick auf das Extremszenario fügt sie hinzu: „Wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnt, hat Europa ein größeres Problem als Geflüchtete.“

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