«Biden ist ein Monster», sagt die Demonstrantin. Ein Besuch im Zeltlager der linken Studentenproteste in den USA
Seit wenigen Tagen wächst auch in einem Park der George Washington University ein Protestcamp. Es zählt mittlerweile über 60 Zelte. ; Anna Moneymaker / Getty
Wie an vielen anderen Hochschulen in Amerika wuchs auch auf dem Campus der George Washington University in den vergangenen Tagen ein kleines Zeltdorf. Die Universitätsleitung umzäunte das Gelände unweit des Weissen Hauses mit Metallgittern. Doch in der Nacht auf Montag rissen die Studentinnen und Studenten die Abschrankungen auseinander und warfen sie in der Mitte des kleinen Parks auf einen Haufen. Danach tanzten sie zu lauten Trommelschlägen bis in die frühen Morgenstunden darum herum. «Free, free Palestine!», skandierten sie. Und: «Wer zieht nicht ab? Wir ziehen nicht ab!»
Aufstand gegen «zionistische Universität»
Für Selina al-Shihabi war es ebenfalls eine lange Nacht. «Ich habe gar nicht geschlafen», sagt die 20-jährige Studentin mit palästinensischen Wurzeln am Montagmorgen auf einer Bank unter einem schattigen Baum. Die Aktivistin kümmert sich um die Medienarbeit im «Solidaritätscamp». Wobei sie für diese Aufgabe einen wichtigen Vorteil hat: Shihabi studiert an der benachbarten Georgetown University. Sie müsse von ihrer Hochschule nicht befürchten, für ihren Protest auf einem fremden Campus suspendiert zu werden, erklärt die Studentin der Internationalen Beziehungen.
Die Demonstranten, die an der George Washington University (GWU) eingeschrieben sind, müssen hingegen zumindest mit einem temporären Ausschluss vom Unterricht und von ihrer Unterkunft rechnen. Viele Studenten in dem Zeltlager sprechen deshalb nicht mit der Presse und tragen eine Hygienemaske, um ihre Identität zu verbergen. Die Universitätsleitung suspendierte bereits am Freitag mehrere Studenten und wollte das Camp gewaltsam räumen lassen. Doch Washingtons demokratische Bürgermeisterin wies die Polizei an, die friedlichen Demonstranten gewähren zu lassen, obwohl diese mit ihren Zelten auch eine angrenzende Strasse blockieren.
Studenten weiterer Universitäten im Umkreis der Hauptstadt beteiligten sich ebenfalls an dem Protest, erzählt Shihabi. Es sei dabei kein Zufall, dass sie ihre Zelte ausgerechnet vor den Toren der GWU aufgeschlagen hätten: «Die Hochschule ist extrem zionistisch.»
Die Privatuniversität verfügt über ein Stiftungsvermögen von rund 2,5 Milliarden Dollar. Shihabi und ihre Mitstreiter vermuten, dass ein Teil dieses Geldes auch in Unternehmen investiert ist, die wiederum mit dem israelischen Rüstungssektor verbandelt sind. Deshalb lautet eine ihrer Forderungen an die Hochschule, diese Anlagen öffentlich zu machen und die Anteile an Firmen mit Bezug zu Israel zu verkaufen. Zudem sollen die suspendierten Studenten wieder zugelassen werden.
Die Hamas – eine Folge der Unterdrückung?
Die propalästinensische Studentenbewegung hat aber auch noch eine andere Rechnung mit der Universität offen. Im November verbot die Leitung für drei Monate sämtliche Aktivitäten der Organisation Studenten für Gerechtigkeit in Palästina auf dem Campus. Die Gruppierung hatte zuvor Slogans an die Aussenwand der Bibliothek projiziert, die als Solidaritätsbekundungen mit dem gewaltsamen Widerstand der Hamas und als Aufruf zur Vernichtung Israels verstanden werden konnten. Darunter etwa: «Ruhm unseren Märtyrern» oder «Für ein freies Palästina vom Fluss bis zum Meer».
Shihabi hat für diese Sanktion der Universität kein Verständnis. Den brutalen Angriff der Hamas auf israelische Kibbuzim am 7. Oktober versteht sie als Konsequenz einer jahrzehntelangen militärischen Besatzung: «Oder, ehrlich gesagt, als Folge eines 75-jährigen Genozids.» Aus diesem Blickwinkel versteht sie auch die israelische Reaktion im Gazastreifen. «Es handelt sich um eine kollektive Bestrafung. Das ist illegal unter internationalem Recht.»
Die Familie ihrer Mutter stamme ursprünglich aus dem Gazastreifen, erzählt Shihabi. Eine Tante und ein Onkel seien in den vergangenen Monaten durch israelische Bomben getötet worden. Dabei könne sie sich noch glücklich schätzen: «Ich habe Freunde, die fünfzig Verwandte verloren haben.» Da immer mehr Häuser zerstört wurden, hätten sich immer mehr Menschen in den verbleibenden Wohnungen versammelt. Dadurch sei auch die Zahl der Todesopfer bei Bombenangriffen gestiegen.
Ihre Eltern sprachen mit ihr lange Jahre nicht über den Konflikt um das Heilige Land. «Sie wollten mich vor dem Trauma beschützen», erzählt Shihabi. Doch an der School of Foreign Service der Georgetown University – der Diplomatenschmiede der USA – wählte sie den Nahen Osten als Hauptfach. «Ich besuchte Vorlesungen über die jüdische Zivilisation und diskutierte mit jüdischen Professoren.» Aufgrund dieses Lernprozesses sei sie zum Schluss gekommen, dass es in Palästina nur einen Weg zum Frieden geben könne: eine Einstaatlösung. «Die illegalen Siedlungen im Westjordanland haben eine Zweistaatenlösung verhindert.» Unerwähnt lässt Shihabi die zahlreichen Selbstmordattentate militanter Palästinenser, die den Osloer Friedensprozess hintertrieben.
Dieser eine Staat dürfe auch Israel heissen, meint die Studentin. Aber er müsse demokratisch sein und das internationale Recht befolgen: «Alle palästinensischen Flüchtlinge, die vertrieben wurden, haben das Recht auf eine Rückkehr in ihre Häuser.» Dies jedoch würde wohl das Ende eines mehrheitlich jüdischen Staates bedeuten. Der Traum einer sicheren Zuflucht für das so oft verfolgte Volk der Juden wäre zerstört. Aber Shihabi sagt: «Man darf eine ursprüngliche Bevölkerung nicht vertreiben, um sich seine Träume zu erfüllen.»
Eine jüdische Freundin mit Palästinensertuch
Ihre jüdische Freundin Miriam ist mit dieser Sichtweise einverstanden, will ihren Familiennamen aber nicht verraten. Die 19-jährige Psychologiestudentin der Georgetown University gehört zur antizionistischen Bewegung Jewish Voice for Peace. Nun teilt sie bereits seit vier Nächten das Zelt mit Shihabi, trägt ein Palästinensertuch um den Kopf und meint: «Meine jüdische Identität ist nicht an die Existenz eines Nationalstaates gebunden.»
Sie glaube an das jüdische Konzept «Tikkun Olam», erzählt Miriam. Übersetzt bedeute dies: «die Welt heilen». Und die Welt könne nur geheilt werden, wenn alle Menschen frei seien. «Niemand ist sicher und frei, bis alle frei sind.» Ein Nationalstaat für die Juden, der andere kolonialisiere, bedeute weniger Sicherheit für ihr Volk. Damit widerspricht die Studentin auch Präsident Biden. Dieser meinte bereits vor dem 7. Oktober: «Ohne Israel kann sich kein Jude in der Welt sicher fühlen.»
Shihabi war früher als Wahlkampfhelferin für die Demokraten aktiv. «Ich habe Biden zur Wahl verholfen», sagt sie selbst. Doch nun ist sie tief enttäuscht über die beharrliche Unterstützung des amerikanischen Präsidenten für Israel. «Biden ist ein Monster», meint Shihabi. Er schicke Israel zusätzliche Milliardenhilfen, obwohl er das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen für falsch halte.
Für die Studentin stehen deshalb zwei Dinge fest: Erstens will sie im Protestcamp bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Und zweitens wird sie im November bei der Präsidentschaftswahl nicht für Biden stimmen. Im demokratisch dominierten Washington wird dies keinen Einfluss auf den Wahlausgang haben. Doch in umkämpften Swing States wie Michigan oder Pennsylvania könnte der studentische Unmut über den Gazakrieg womöglich Bidens Niederlage besiegeln und Trump zum Sieg verhelfen. Shihabi aber meint dazu: «Die Demokraten brauchen eine Lektion.» Die Linke dürfe nicht länger mit den Stimmen von Arabern, Muslimen und anderen Minderheiten rechnen, weil diese Angst vor der politischen Alternative haben.