Berliner Kältehilfe schließt: „Ich könnte eine kleine Wohnung bezahlen, aber finde keine“
Helga, 69 Jahre alt, im Kreuzberger Tagestreff Unterschlupf e.V. Sie ist eine der Frauen, deren Schlafplatz ab 1. Mai wegfällt. Frauen trifft das Ende der Kältehilfe besonders hart.
Zum 1. Mai endet die Berliner Kältehilfe; damit fallen 1200 Schlafplätze für obdachlose Menschen in Berlin weg. Die ganzjährigen Angebote reichen bei weitem nicht aus, um alle Wohnungslosen aufzunehmen. Marit Heinisch, feste Mitarbeiterin bei der Kreuzberger Einrichtung Unterschlupf e.V., telefoniert seit zwei Wochen herum, um „ihre Frauen“ in andere Notquartiere zu vermitteln. Die einstimmige Antwort: Alles ist dicht. Alles überfüllt, es gibt viel zu wenig Kapazitäten. Sie ist frustriert. Unterschlupf e.V. bietet ganzjährig einen Tagestreff für wohnungslose Frauen an. Im Obergeschoss des Hauses befindet sich während der Wintermonate zudem eine Einrichtung der Berliner Kältehilfe. 20 Schlafplätze in fünf Räumen, ausschließlich für Frauen – solche Angebote sind selten.
Die Einrichtung in der Wrangelstraße ist bei wohnungslosen Frauen sehr beliebt. Viele Noteinrichtungen sind zeitlich beschränkt auf eine, zwei, maximal drei Wochen. Dann geht die Suche nach einem warmen Schlafplatz von vorne los. In der Wrangelstraße können die Frauen den ganzen Winter bleiben, die 20 Schlafplätze sind immer belegt. Am Morgen gehen sie ins Erdgeschoss. Dort befinden sich die Räume des Tagestreffs. Dort können sie frühstücken, sich ausruhen, Wäsche waschen, ihre Taschen im Keller abstellen, das Wlan und den Garten nutzen.
Frühstück für die obdachlosen Frauen, die in die Einrichtung Unterschlupf kommen. Im Hintergrund die Mitarbeiterin Marit Heinisch. Sie hat alle Hände voll zu tun.
Michaela, um die 50, kommt schon von Beginn an in die Einrichtung. Sie nutzt im Winter den Schlafplatz der Kältehilfe und tagsüber die Angebote von Unterschlupf e.V. „Für einen Obdachlosen ist das hier das Paradies!“ Warum? „Hier kann ich Mensch sein, hier komme ich zur Ruhe.“ Frühstück und Mittag werden von der Leiterin, einer ausgebildeten Köchin, und einem Team aus vielen Ehrenamtlichen, ohne die auch diese Einrichtung nicht funktionieren würde, zubereitet.
Michaela ist begeistert: „Das Essen ist Luxus pur.“ Es gibt immer vegane und vegetarische Alternativen, wenn es Fleischgerichte gibt. Auf unterschiedliche Geschmäcker, auch auf Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten würde woanders selten Rücksicht genommen. „Wir sind alle unterschiedlich. Wir sind ganz normale Menschen, nur mit einer anderen Schlafsituation.“ In den Räumlichkeiten fühlen sich die Frauen wohl. Die Räume sind hell. Sofas und Tische laden zum Verweilen ein. Im Garten stehen Liegen. Wer Lust und Kraft hat, kann im Garten helfen. „Da hinten wachsen die Radieschen“, weiß Michaela.
Auch die 69-jährige Berlinerin Helga hatte den Winter über einen Schlafplatz in der Kreuzberger Einrichtung. Sie ist seit November 2022 obdachlos – ihre Wohnung wurde wegen Eigenbedarfs gekündigt. Wegen eines negativen Schufa-Eintrags bekommt sie keine Wohnung. Bis zu einem psychischen Zusammenbruch hat sie als Verwaltungsfachangestellte gearbeitet und könnte von ihrer Rente auch eine kleine Wohnung bezahlen – wenn sie denn eine finden würde. Der Schufa-Eintrag ist die Krux. Das Leben auf der Straße sei sehr nervenaufreibend und stressig. Längerfristige Angebote würden fehlen. Man sei ständig auf Reisen und könne sich um nichts anderes als Essen und Schlafplatzsuche kümmern. Eine psychische Erkrankung macht es zusätzlich schwer, feste Wohnverhältnisse wären wichtig.
Ende Juni muss Unterschlupf e.V. schließen, das Gebäude wird abgerissen. Der Verein sucht seit Monaten nach neuen Räumlichkeiten – ohne Erfolg. Für Michaela, Helga und die anderen Frauen wird das ein herber Einschnitt in ihr ohnehin schon schwieriges Leben. Angebote wie von Unterschlupf e.V., die sich direkt an obdachlose Frauen richten, gibt es viel zu wenige. Auch andere Einrichtungen sind von Schließung bedroht: Die Berliner Notunterkunft für Frauen Evas Obdach verliert 2025 ihr Haus. Der Containerbahnhof reduziert sein Angebot an Schlafplätzen für Obdachlose.
Die wichtigsten Forderungen, die Michaela wütend formuliert und die von allen, die mit Wohnungslosenhilfe zu tun haben, auch artikuliert werden, sind: Toiletten und Duschmöglichkeiten für Frauen. Während Männer kostenfrei Pissoirs nutzen können, sind Frauen auf Toiletten angewiesen, die fast immer etwas kosten. Auch der Zugang zu Cafés und Restaurants wird vielen häufig verwehrt, manchmal werden sie sogar verscheucht. Bibliotheken können Zufluchtsorte sein, solange sie öffentlich zugänglich sind.
Wichtig sind die Trinkbrunnen im öffentlichen Raum. Was außerdem fehlt, sind Plätze, um Kleidung, Schlafsäcke oder Taschen sicher abzustellen. „Wir brauchen nicht fünf Schlafsäcke im Jahr“, sagt Michaela. „Aber wo soll ich denn jetzt, wo es warm wird, meine Wintersachen abstellen? Ich habe keinen Platz. Es müsste Schließfächer geben.“ Unterschlupf e.V. bietet Platz im Keller. Dieser ist sehr begehrt, die Frauen hängen an ihren Habseligkeiten. Im Januar dieses Jahres startete ein Pilotprojekt im Märkischen Viertel mit 18 Schließfächern für Wohnungslose – die Initiatoren hoffen auf Nachahmende.
Außerdem ist die Bewegung durch die Stadt ein ökonomisches Problem für die Ärmsten der Armen. Viele Obdachlose gehen ins Gefängnis, da sie immer wieder beim Schwarzfahren erwischt werden. Marit Heinisch schiebt Michaela zwei BVG-Tickets über den Tisch. Diese will später am Tag eine andere Frau in eine Notunterkunft begleiten. Bei Unterschlupf e.V. bekommt sie dafür BVG-Tickets. Leichter wäre es, wenn sie einfach kostenlos fahren könnte. Die Angebote für Obdachlose sind über die ganze Stadt verteilt.
Über die ganze Stadt verteilt sind die Hilfseinrichtungen für Obdachlose. Die „Shelter Map Berlin“ gibt es auch interaktiv. Sie ist sehr wichtig für das Überleben in der Großstadt.
Barbara Breuer ist die Pressesprecherin der Berliner Stadtmission. Sie zieht bereits Bilanz zur Kältehilfe 2023/2024. Die Trends findet sie besorgniserregend: Immer mehr Menschen nutzen die Notübernachtung, der Anteil wohnungsloser Frauen steigt, psychische Erkrankungen treten häufiger auf – Demenz, Depressionen, Psychosen. Immer mehr Obdachlose sind auf den Rollstuhl angewiesen. Sie können in den Notquartieren kaum untergebracht werden, da es dort kein Pflegepersonal gibt.
Viele Notunterkünfte seien schon am Abend überfüllt. Barbara Breuer erzählt, dass die große Notübernachtung der Stadtmission in der Lehrter Straße am Hauptbahnhof, ausgelegt auf 130 Plätze, mit 170 Menschen regelmäßig völlig überbelegt sei. Rund ein Drittel der Menschen, die die Notunterkünfte der Stadtmission nutzen, kommen aus Deutschland, ein weiteres Drittel aus Polen, die übrigen Obdachlosen kommen häufig aus osteuropäischen Ländern, Rumänien, Bulgarien und der Ukraine.
„Eigentlich bräuchten wir eine riesige Tagesklinik“, so Barbara Breuer. Eine langfristige Begleitung obdachloser Menschen sei wichtig. Einigen gelinge so der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit und die Rückkehr ins System. Die Kältehilfe sei eine gute Sache, aber würde nicht reichen. „Auch die Hitze im Sommer ist gefährlich“, so Breuer. Das dauerhafte Leben auf der Straße bedeute Stress. Außerdem baue das ganze Hilfesystem zu viel auf die Arbeit ehrenamtlicher Helfer. Ohne die ganzen Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, würde das System zusammenbrechen.
Eine Kritik, die auch die obdachlose Michaela aus Kreuzberg teilt. „Das System ist krank.“ Es gebe zu wenig bezahlbare Wohnungen, zu viele Luxuswohnungen. Sie wünscht sich, dass alle Ehrenamtlichen mal ihre Arbeit niederlegen, damit alles zusammenbricht. Dann würde vielleicht klar werden, „dass es so nicht geht“. Allein 2500 obdachlose Frauen leben in Berlin auf der Straße. Der Weg in die Obdachlosigkeit geht manchmal schnell: Trennung, Trauerfall, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit. Marit Heinisch kennt diese Entwicklungen. „Jeden kann es treffen“, so ihr nüchternes Urteil.
Michaela befürchtet einen sehr harten Sommer. Über die Fußball-Europameisterschaft freuen sich Obdachlose nicht. Für sie bedeuten solche Großevents Stress. „Die Stadt wird hergerichtet. Da gehören wir nicht hin. Wir werden vertrieben. Wir sind aber auch Menschen“, so ihre Prognose. Zelte in Parkanlagen können jederzeit abgeräumt werden. Nichts ist sicher auf der Straße.
Auch Marit Heinisch von Unterschlupf e.V. sieht die Kältehilfe kritisch: Augenwischerei, damit das Elend nicht so sichtbar ist, so ihre Vermutung. Aber was passiert jetzt, fragt sie sich. 1200 Menschen müssen nun in die Parks und Plätze. Sie macht sich Sorgen um ihre Frauen, die – wenn der Verein keine neuen Räumlichkeiten findet – auch tagsüber keine Ruhe mehr finden werden.