Schuldenbremse: Nicht alle Schulden sind schlechte Schulden

Ohne die Zusatzmilliarden ginge es Deutschland jetzt viel schlechter. Das zeigt: In Zeiten der Polykrise braucht es eine intelligente, flexible Schuldenbremse.

schuldenbremse: nicht alle schulden sind schlechte schulden

Eine Lösung für das Haushaltsjahr 2023 scheint gefunden – doch wie geht es ab 2024 weiter? Eine Reform der Schuldenbremse scheint unausweichlich.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnte Deutschland in eine politische Krise treiben. Daran dürfte auch der nun von Bundesfinanzminister Lindner vorgestellte Plan nichts ändern, kommende Woche einen Nachtragshaushalt vorzustellen. Dabei stellt das Gericht den Kurs der Politik gar nicht infrage, sondern begrenzt nur deren Instrumente: Nicht Gründe und Höhe der umgewidmeten Gelder sind das Problem, sondern die Zweckentfremdung.

Nun wird von mancher Seite so getan, als seien diese Ausgaben in den vergangenen beiden Jahren schädlich gewesen. Friedrich Merz behauptet gar, die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz hätte die Wählerinnen und Wähler betrogen. Aber zur Fairness gehört das Eingeständnis, dass eben jene Bundesregierung mit ihren Ausgaben deutlich Schlimmeres verhindert hat. Kaum eine Regierung in der Welt hat Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger in der Pandemie und dann in der Energiekrise so stark unterstützt wie die deutsche. Noch vor einem Jahr gingen alle Wirtschaftsprognosen von einer tiefen Rezession der deutschen Wirtschaft aus. Viele hielten eine Notlage bei Gas für wahrscheinlich, was Produktionsstopps und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit als Folge gehabt hätte. Die starken Hilfen der Bundesregierung durch den neu aufgelegten Wirtschaftsstabilisierungsfonds und den Klima- und Transformationsfonds haben ein solches Szenario abgewendet.

Trotzdem hat das Gericht mit seinem Verbot recht. Ausnahmen der Schuldenbremse, die definitionsgemäß zeitlich und inhaltlich begrenzt sein sollen, dürfen nicht für langfristige oder permanente Aufgaben genutzt werden. Und dass sie damit absichtlich die Schuldenbremse umgehen, war den Bundes- und Länderregierungen wohl immer bewusst.

Das führt zu zweierlei Schlussfolgerungen: Erstens ist die Schuldenbremse nicht mehr zeitgemäß. Sie ist schädlich, weil sie blind ist, wofür der Staat sein Geld ausgibt: ob für Konsum oder für Zukunftsinvestitionen. Dies muss in einer Schuldenregel zwingend berücksichtigt werden. Zweitens begrenzt das Urteil die Fähigkeit von Bundes- und Länderregierungen, über Schulden Investitionen tätigen zu können.

Dies erfordert einerseits eine grundlegende Reform der Schuldenbremse, damit sie in Zukunft wieder sinnvoll Schulden begrenzen und eine Stabilisierung auch in Krisenzeiten möglich macht. Andererseits muss der Staat neue Wege finden, Zukunftsinvestitionen in Klimaschutz, Bildung oder Transformation finanzieren zu können. Daueraufgaben wie Klimaschutz können und sollten nicht durch temporäre Sondervermögen finanziert werden, von denen ständig neue geschaffen werden müssten.

Kritikerinnen und Kritiker wenden ein, die Bundesregierung schade mit ihrer Finanzpolitik künftigen Generationen, denn die hätten die höheren Schulden zu tragen. Das zeugt von einem falschen Verständnis von nachhaltiger Finanzpolitik sowie von den Wünschen und dem Schutz der Interessen künftiger Generationen. Jungen Menschen heute sind gute Arbeitsplätze, eine intakte Umwelt, sozialer Friede und eine hohe Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland viel bedeutender als die Frage, ob die Bundesregierung künftig 0,7 Prozent oder 0,9 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung als Zinsen auf die Staatsschulden zahlt.

Viele der Staatsschulden sind durchaus gute Schulden. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass jeder Euro, der heute in Deutschland in Bildung investiert wird, langfristig doppelt und dreifach in der Form von höheren Steuereinnahmen an den Staat zurückkommt. Denn ein besseres Bildungssystem gibt mehr jungen Menschen die Chance, einen Schul- und Ausbildungsabschluss zu schaffen, sie produktiver und erfolgreicher zu machen und damit auch den Unternehmen zu helfen. Ähnliches gilt für Ausgaben für Klimaschutz, für eine leistungsfähige Infrastruktur und für Innovation.

Häufig rufen diejenigen nach stärkeren Staatshilfen, die besonders stark von den Wirtschaftshilfen der Bundesregierung profitiert haben – und fordern zusätzlich, dass der Staat seine Schulden tilgt. Diese Rechnung geht jedoch nicht auf: Der Staat kann nicht mehr Ausgaben tätigen, die Steuern senken und gleichzeitig seine Schulden reduzieren.

Die schärfsten Kritiker der Bundesregierung sehen die Lösung für diese Quadratur des Kreises in einer Reduzierung der Sozialausgaben. Friedrich Merz spricht sich beispielsweise gegen die Kindergrundsicherung aus, was knapp vier Milliarden Euro pro Jahr einsparen würde. Unerwähnt lässt er, dass der größte Teil dieser Gelder nicht für eine Erhöhung der Leistungen vorgesehen ist, sondern dass mehr anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche bestehende Leistungen überhaupt erhalten. Es zeigt, wie ungerecht diese Debatte geführt wird, wenn nun die verletzlichen Gruppen unserer Gesellschaft als Sündenbock für die Probleme der Finanzpolitik herhalten müssen. Zumal der deutliche Anstieg der Staatsschulden seit 2020 weniger durch höhere Sozialleistungen verursacht wurde, sondern durch Wirtschaftshilfen und massive staatliche Subventionen für Unternehmen und Industriekonzerne.

Die Bundesregierung wird daher in den kommenden Jahren keine andere Wahl haben, als die Steuern zu erhöhen, um diesen Widerspruch aufzulösen. Der beste Ausweg aus dem Dilemma ist eine große Steuerreform, die zum einen darauf abzielt, die vielen steuerlichen Ausnahmen und Privilegien abzuschaffen. Das Dienstwagenprivileg zum Beispiel, Flugkerosin und viele andere Subventionen fossiler Energieträger.

Kaum ein Land besteuert Arbeit stärker und Vermögen geringer als Deutschland. Eine große Steuerreform sollte daher auch Arbeit von Menschen mit mittleren und geringen Einkommen entlasten und passive Vermögen, vor allem große Erbschaften und Immobilien, deutlich stärker belasten – so wie es in anderen Industrieländern üblich ist. Frankreich, die USA oder Großbritannien haben mehr als dreimal mehr Steuereinnahmen auf Vermögen als Deutschland. Wenn Deutschland Vermögen genauso stark besteuern würde, ergäbe das jedes Jahr 100 Milliarden Euro an zusätzlichen Einnahmen. Das zeigt: Eine große Steuerreform könnte nicht nur die notwendigen Einnahmen für Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Klimaschutz und Innovation generieren. Sondern auch wirtschaftlich sinnvoll sein und mehr wirtschaftliche Dynamik in Deutschland schaffen.

Das größte Risiko heute ist, dass die Bundesregierung sich durch das Urteil aus Karlsruhe selbst zerlegt. Stattdessen muss Deutschland handlungsfähig bleiben und jetzt die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen. Zukunftsinvestitionen des Staates sollten deshalb oberste Priorität haben. Die Bundesregierung muss sich zusammenraufen und die Modernisierung der Wirtschaft beschleunigen und nicht verlangsamen. Dies erfordert kurzfristig eine weitere Ausnahme der Schuldenbremse und langfristig eine große Steuerreform.

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