Argentinien: Warum Milei die Geschichte der Militärdiktatur umschreiben lässt
October 18, 2023, Buenos Aires, Argentina: Presidential candidate of the Liberty Advances coalition data-portal-copyright=
Die Junta putschte 1976 und ließ Tausende foltern und töten. Gedenkstätten zeugen davon. Nun will die Regierung Milei sie schließen – unter Beifall vom rechten Rand.
Wer vom Flughafen Buenos Aires in Richtung Stadtzentrum fährt, kommt nach 20 Kilometern an ein verwildertes Gelände von der Größe eines Fußballfeldes. Zwischen Unkraut sind Fundamente von Häusern zu sehen. Nichts erinnert an die Verbrechen, die hier vor fast 50 Jahren stattgefunden haben. Genau das ist auch die Absicht.
Erst wenn Silvia Saladino erzählt, bekommt das Gelände Konturen. Die resolute Mutter von vier Kindern war hier ab Juli 1978 rund 50 bis 60 Tage gefangen, sagt sie. Genauer weiß sie es nicht. Die damals Zwanzigjährige musste Tag und Nacht eine Kapuze tragen und verlor irgendwann das Zeitgefühl.
Drei Gebäude im Landhausstil inklusive Schwimmbad hätten damals hier gestanden, erzählt Saladino. Die Gefangenen allerdings lagen in Bretterverschlägen, wie in einem Schweinestall. Dort warteten sie und hörten, wie ihre Mitgefangenen gefoltert wurden.
Etwa auf einem metallenen Bettgestell, das unter Strom gesetzt wurde. „Das war das Schlimmste“, beschreibt sie den Horror. Manchmal stimmten die Gefangenen aus verzweifelter Solidarität die Nationalhymne an. In den zwei Monaten durfte Saladino nur einmal duschen.
Wie viele Menschen durch das Folterzentrum El Vesubio geschleust wurden, ist bis heute unklar. 400 Menschen könnten es gewesen sein, vielleicht auch viel mehr. Die Grundschullehrerin Saladino wurde damals hierhin verschleppt, weil sie Mitglied der Vanguardia Comunista war, einer der vielen linken Organisationen des Landes.
Militärs putschten 1976
Argentinien steckte vor fünfzig Jahren in einer Spirale gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Terroristen. 1976 putschten die Militärs und errichteten eine der brutalsten Diktaturen Lateinamerikas – die bis 1983 dauerte.
„Wir mussten eine große Anzahl von Menschen beseitigen, um die soziale Ordnung wiederherzustellen“, rechtfertigte der Junta-General Jorge Videla später die staatlichen Massenmorde. 8000 Menschen seien von der Diktatur getötet worden, brüstete er sich. Es waren Linksterroristen und deren tatsächliche oder vermeintliche Sympathisanten: Studenten, Gewerkschafter und linke Politiker.
In vielen Staaten Lateinamerikas wurden die Verbrechen der Militärdiktaturen nie aufgearbeitet, die Täter nie bestraft. In Brasilien, Uruguay oder Peru gibt es keine Mahnmale, die an die dunkle Vergangenheit erinnern.
In Argentinien ist das anders. Viele Täter wurden verurteilt, Amnestien zurückgenommen. Mit Javier Milei als Präsident gerät diese Aufarbeitung in Gefahr.
Seinen Wahlsieg verdankt er auch den Stimmen am rechten Rand des Wählerspektrums. Diesen bedient seine 48-jährige Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sollte der so explosive wie unberechenbare Milei sein Amt verlieren oder zurücktreten, würde sie seine Nachfolgerin. Ein Onkel Villarruels war wegen Verbrechen in der Diktatur angeklagt.
„Alles, was Sie in den letzten vierzig Jahren über die argentinische Republik und ihre Vergangenheit gehört haben, ist falsch“, sagte Villarruel kürzlich auf einer Konferenz der spanischen Rechtspartei Vox. Im Kalten Krieg hätten linke Guerillagruppen einen kommunistischen Staat wie in Kuba errichten wollen. Das hätten die Militärs verhindert. Es habe kein Genozid stattgefunden, sondern ein Bürgerkrieg. „Diejenigen, welche gegen den Terrorismus kämpften, sitzen heute in Haft“, sagt Villarruel. Es sei an der Zeit, sie zu rehabilitieren.
Alle Entschädigungen sollen überprüft werden
Villarruel will auch die Opfer des Linksterrorismus entschädigen – was bisher nicht geschehen ist. Dafür hat sie ein Studienzentrum gegründet. Dieses spricht von 1094 zivilen Opfern der Linksguerilla.
Die Angaben zu den Opfern des Staatsterrors zweifelt sie dagegen an – so wie auch Milei. „Es gab nicht 30.000 Tote und Verschwundene, sondern 8753“, erklärte er im Wahlkampf. „Wir kämpfen gegen ein verzerrtes Bild der Geschichte.“ Milei und Villarruel nutzen online den Hashtag #NoFueron30000 („Es waren keine 30.000“).
Menschenrechtsorganisationen bekräftigen die Zahl von 30.000, die eine Schätzung ist. Namentlich bekannt sind etwa 8800 Opfer. Auch die prominente Menschenrechtsaktivistin Graciela Fernández Meijide sagt, dass die Opferzahl kurz nach der Diktatur so hoch angegeben worden sei, um die Welt auf das, was sie als Völkermord bezeichnet, hinzuweisen.
Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen war ein zwanzig Jahre dauerndes Kräftemessen zwischen rechts und links. Die wenigen Urteile gegen Junta-Generäle wurden aufgehoben. Präsident Carlos Menem, der von 1989 bis 1999 regierte, wollte die Diktatur vergessen machen.
Die Rolle der Fußball-WM 1978
Auch als mehr Wille da war, Täter zur Rechenschaft zu ziehen, blieb die Beweislage schwierig. Die Militärs hielten eisern ihr Schweigegelübde. Und sie hatten alles getan, um ihre Spuren zu verwischen. Schon 1978 machten sie das Folterzentrum El Vesubio dem Erdboden gleich, als zur Fußball-Weltmeisterschaft viele Touristen ins Land kommen sollten.
Saladino ist eine der wenigen Gefangenen, welche die Folter in El Vesubio überlebt haben. Möglicherweise nutzte ihr Vater Kontakte zum Militär. Saladino kam in ein normales Gefängnis und wurde nach einigen Monaten freigelassen.
Zwanzig Jahre schwieg sie über ihre Erfahrungen. „Ich schämte mich, überlebt zu haben“, sagt die heute 66-Jährige. Doch dann hätten sie Kinder von Gefolterten aufgesucht und sie gebeten, ihre Erfahrungen zu schildern. „Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass meine Worte etwas bewirken können.“
Mahnmale erinnern heute an die Vergangenheit
Das Folterzentrum El Vesubio war da schon fast in Vergessenheit geraten. Aussagen wie die von Saladino lösten aber eine Reihe von Prozessen aus. Rund 1200 Personen sind bis heute wegen Verbrechen unter der Diktatur verurteilt worden. Rund 60 Verfahren laufen noch. Die Angeklagten sind alt. Sie sterben oft vor der Urteilsverkündung.
Nun macht sich die Regierung unter Milei daran, Gedenkstätten zu beseitigen. So auch eine ehemalige Offiziersschule, in der etwa 5000 Menschen gefoltert und ermordet wurden. Nur etwa 200 überlebten.
Unter dem Dachstuhl vegetierten die Gefangenen. Im Keller wurden sie gefoltert. In den zwei Stockwerken dazwischen lebten die Kadetten. Sie müssen den Opfern in Kapuzen auf der engen Treppe öfter begegnet sein. Der Direktor gab an, nichts von den Folterungen gewusst zu haben.
Fast alle der vermutlich 5000 Gefangenen wurden betäubt, in Flugzeuge verladen und dann aus ein paar Tausend Meter Höhe in die Mündung des La-Plata-Flusses geworfen.
Vizepräsidentin Villarruel will solche Gedenkstätten nun in Schulen umwandeln. Für sie geht die Vergangenheitsbewältigung auf einen korrupten Filz zurück, der an Subventionen und Entschädigungen interessiert war. Viele Konservative stimmen ihr zu. Laut einer Umfrage wollen 27 Prozent der Argentinier, dass verurteilte Generäle nachträglich freigesprochen werden.
Umso wichtiger sei es, dass El Vesubio zur Gedenkstätte werde, sagt Saladino. Sie zeigt zum Bus, aus dem gerade zur Mittagszeit Kinder in Schuluniformen aussteigen. „Sonst kommen die Kinder hier jeden Tag weiter vorbei und wissen nicht, was hier geschehen ist.“