Russische Politologin: Putins Leute träumen von einer DDR, die es nie gegeben hat

russische politologin: putins leute träumen von einer ddr, die es nie gegeben hat

Der Fernsehturm spiegelt sich in den Fassadenfenstern des Palast der Republik.

Die russische Politologin Jekaterina Schulmann sieht in einer Art „reformierter DDR“ das Kreml-Ideal für die russischen Verhältnisse: politisch gleichgeschaltet und wirtschaftlich effizient mit einer mächtigen, unabhängigen Staatssicherheit. Die Berliner Zeitung hat mit ihr gesprochen.

Frau Schulmann, in einem aktuellen Interview konnte man den Eindruck gewinnen, Sie prognostizieren für Russland ähnliche innere Zustände wie früher in der DDR.

Das ist nicht genau das, was ich prognostiziert habe. Mir war wichtig, dass das gesellschaftspolitische Ideal der russischen Führung eben nicht die Sowjetunion ist – was dem Kreml ja oft vorgeworfen wird. Aus vielen Äußerungen ist bekannt, dass Juri Andropow (Anm.d.Red.: KGB-Chef 1967-82, danach Partei- und Staatschef) für Putin und sein Umfeld, also die gegenwärtige Führung, als idealer Anführer erscheint. Zu dessen Zeit hatten der KGB, die Partei und die sowjetische Verwaltung unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft des Landes. Andropow, der ein Vertreter des KGB war, wollte keine politischen Reformen, aber wirtschaftliche. Man glaubt, dass sich unter ihm junge Wirtschaftsfachleute trafen, um über eine mögliche Reform der sowjetischen Wirtschaft und eine Reform der Planwirtschaft zu diskutieren. Heute glauben manche, dass Andropow, wäre er nicht 1984 gestorben, diese Reform durchgeführt und den Zusammenbruch der Sowjetunion verhindert hätte.

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Juri Andropow (l) im Jahr 1982

Ist das eine realistische Annahme?

Darauf kommt es nicht an. Ich halte es für unrealistisch, damals die Wirtschaft zu liberalisieren und das politische Monopol unangetastet zu lassen. Auch Gorbatschows Reformen begannen wirtschaftlich mit der Genossenschaftsbewegung und bekamen schnell einen politischen Charakter. Ich glaube, das Sowjetsystem war unergiebig und unmöglich zu reformieren. Aber wir reden nicht über die Realität, sondern über die Wahrnehmung. In dieser magischen Welt gibt es den legendären Andropow, der alles hätte retten können, aber zu früh starb.

Wie hätte man die Sowjetunion so umgestalten können, dass ihre wirtschaftliche Ineffizienz nicht zu ihrer Zerstörung führt?

Beispielsweise wie in der DDR oder in Ungarn. Die DDR war der UdSSR näher als der Gulasch-Sozialismus. Sie wirkte wie das nächstgelegene, erreichbare und gleichzeitig sehr begehrenswerte Ausland. Sie schien im Vergleich zur sowjetischen Armut auch das wohlhabendste Land zu sein. Jetzt wirkt diese Idealisierung monströs. Sie zeigt, was für ein Schrecken die Sowjetunion war, wenn sogar das düstere Ostdeutschland für Leute aus dem KGB erstrebenswert wirkte. Mit weniger Elend.

Erscheint die DDR damaligen KGB’lern wie Putin auch ideal wegen der großen Macht ihrer Staatssicherheit? Der russische Geheimdienst FSB hat ja selbst in Moskau die Vorbereitung eines Terroranschlags gar nicht mitbekommen?

Jeder Geheimdienst hat seine Ziele. Dem FSB geht es um Machterhalt und nicht um die Verhinderung von Terroranschlägen. Dieser Anschlag (Anm.d.Red.: auf die Crocus City Hall bei Moskau am 22. März) war ja der Akt einer ganzen Gruppe bewaffneter Täter. Vorbereitungen waren notwendig, der Geheimdienst hätte in ihrem Umfeld Agenten benötigt. Aber wir sehen an der Reaktion der russischen Führung, dass sie immer noch glaubt, islamistische Gruppen würden nichts gegen Russland unternehmen. Angeblich sind es Verbündete in einer Welt mit nur zwei Polen: Russland und die USA. Und wer gegen Amerika ist, sollte „für uns“ sein. Der IS als Freund und Bruder, der uns nichts tut. Das ist die Logik ganz oben. Die Islamisten wissen nur noch nicht, dass sie unsere Freunde sind. Derweil konzentriert man sich darauf, Widerstand im Internet aufzuspüren oder Leute, die mit Blumen auf einen Friedhof gehen, zu identifizieren und sie daheim zu besuchen.

Ich möchte aber noch etwas zum Bild der DDR in der russischen Führung sagen. Die Deutschen sollten das wissen. Auch wenn es keinen Plan gibt, den Moskau verfolgt: Sie ist ein Ideal, eine DDR, die es real nie gegeben hat, die aber im Denken der Moskauer Führung wichtig ist. Das sind betagte Menschen, die sich immer weiter in ihre Fantasiewelt zurückziehen.

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Gorbatschow spricht beim Kongress der Volksdeputierten der UdSSR mit Delegierten, 1989

Was sind die wichtigsten Elemente dieses Ideals?

Isolationismus, Feindseligkeit gegenüber dem Westen, und die Allmacht der politischen Polizei. Dazu gehört eine relativ untergeordnete Rolle der Ideologie und ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Freiheit. Das sind die Elemente dieser imaginären DDR. Außerdem ein formelles Mehrparteiensystem und einige dekorative Elemente des Parlamentarismus und Pluralismus. Die Führung versteht aber: Selbst wenn wir uns zum Ziel setzen, so etwas echt aufzubauen, lässt sich einiges davon in der russischen Realität heute nicht verwirklichen.

Was ist davon nicht realisierbar?

Es gibt keine Ideologie und auch keine Quelle, aus der man eine schöpfen kann. Außerdem bewachte die DDR ihre Grenze wesentlich intensiver, als es in Russland möglich ist. Das fördert die Ausreise aus dem Land. Und die DDR führte keinen Krieg, hat nie aktiv mit einem Nachbarn von vergleichbarer Größe gekämpft. Die SED war keine so überwältigende Macht wie die sowjetische KPdSU, sie hatte kein Monopol. Was aber für die Leute wichtig ist, die dieses Ideal pflegen: Die Staatssicherheit in der DDR war viel unabhängiger und mächtiger als der KGB in der UdSSR.

Und das ist wichtig für Leute in der russischen Führung, die aus Geheimdienstkreisen kommen?

Aus deren Perspektive wurde die Sowjetunion von Teilen der Partei zerstört. Dazu kommt die Legende vom Verrat Gorbatschows, der die UdSSR angeblich auf dem Gewissen hat. Sie behaupten, er habe die DDR verschenkt und für den Abzug der sowjetischen Truppen und die deutsche Wiedervereinigung keine Gegenleistung verlangt. Die DDR war eine Festung, von Feinden umgeben mit einer Mauer mitten in der Hauptstadt. Sie wurde nicht von einer Ideologie regiert, sondern von der Geheimpolizei. Einer Geheimpolizei, deren Methoden ein junger KGB-Offizier nur bewundern konnte. Etwa das psychologische Element bis hin zur psychischen Zerstörung von Dissidenten oder anderen unerwünschten Personen. Man nannte das Zersetzung. Beispielsweise drangen sie in Abwesenheit der Bewohner in Wohnungen ein und ließen dort Dinge zurück. Das wiederholten sie, bis die Menschen das Gefühl hatten, verrückt zu werden. Agenten waren überall, überall wurde verdächtigt mit dem Ziel der Spaltung von Bürgerbewegungen und der Isolation des Einzelnen.

Die Menschen wurden verrückt …

Und von ihrer Umgebung ausgegrenzt. Das konnte bis zum Selbstmord gehen.

In der DDR gab es ja zwischen den Blockparteien (Anm.d.Red.: Parteien ohne reale Macht neben der Regierungspartei SED) keinen Wettbewerb, die Anzahl der Parlamentssitze wurde von oben festgelegt. Halten Sie eine solche faktische Abschaffung des Wahlrechts in Russland für möglich?

Im Prinzip haben wir ein ähnliches System seit 20 Jahren. Die Parlamentswahl 2003 war vielleicht die letzte, deren Ausgang noch ungewiss war. In der Präsidialverwaltung werden die Sitze verteilt, Parteilisten erstellt, und es wird entschieden, wer gewinnt. Es gibt auch immer wieder kleine, sagen wir Korrekturen der Abstimmungsergebnisse. Etwa 2021 bei der Wahl des Abgeordneten Dmitri Wjatkin. Vor ihm auf der Liste mussten vier Kandidaten auf ihr Mandat verzichten, da er so wenige Stimmen bekommen hatte. Die anderen wurde hinausgeworfen, bis er an der Reihe war.

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Putin ca. 1980 in KGB-Uniform: In den 80er Jahren war er für den russischen Geheimdienst in Dresden tätig.

Spiegelt sich das DDR-Ideal auch in der Wirtschaftspolitik? In Russland gab es ja zuletzt einige Verstaatlichungen. Ist das Land auf dem Weg zu staatlicher Kontrolle der Privatwirtschaft?

Ich bin keine Wirtschaftsexpertin, darüber kann ich nicht so kompetent reden. In Russland existieren und florieren große Privatkonzerne. Die Umverteilung von Vermögenswerten 2023 und 2024 war keine Verstaatlichung, sondern eher eine Umverteilung. Vermögenswerte politisch unzuverlässiger Eigentümer wurden an politisch korrekte übergeben. Etwa an Verwandte von Ramsan Kadyrow oder an Leute mit guten Kontakten zum Staatsoberhaupt von Tatarstan. Momentan hat die russische Führung einen gesunden Respekt vor der Kompetenz der Finanz- und Wirtschaftsexperten. Sie lässt sich nicht auf das ein, was man unter Journalisten Kriegswirtschaft nennt. Natürlich gehen erhebliche staatliche Mittel in Rüstungsunternehmen, deren Produktion steigt. Dennoch ist einer der Gründe für die relative Stabilität des russischen politischen Systems seine marktwirtschaftliche Basis. Deren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit fehlte der Sowjetwirtschaft. Das ist der russischen Führung bewusst, und ich denke nicht, dass sie derzeit versucht, diese fatale Grenze zu überschreiten. Obwohl Eigentum durch Präsidialerlasse beschlagnahmt oder transferiert wird. Vor allem ausländisches Eigentum. Dabei handelt es sich um staatliche Regulierung in ihrer krassesten Form, aber nicht um eigentliche Verstaatlichung.

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