„Naive Vorstellung, dass KZ-Gedenkstätten Läuterungsanstalten sind“

Die Union schlägt verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten für alle Schüler vor, um die Erinnerung an die Gräuel der NS-Diktatur wachzuhalten. In großen Erinnerungsorten stößt die Forderung allerdings weitestgehend auf harte Ablehnung – eine solche Pflicht könne gar „kontraproduktiv“ sein.

„naive vorstellung, dass kz-gedenkstätten läuterungsanstalten sind“

Eine Schulklasse besucht die KZ-Gedenkstätte Dachau picture alliance/dpa

Die Forderung der Unionsfraktion im Bundestag nach verpflichtenden Besuchen von ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagern für alle Schüler in Deutschland wird von den sechs größten KZ-Gedenkstätten einstimmig abgelehnt. Lediglich die nach Besucherzahlen siebtgrößte Gedenkstätte in Flossenbürg steht dem Ansinnen positiv gegenüber. Dies zeigt eine Abfrage der WELT.

CDU und CSU hatten die Bundesregierung in einem Bundestagsantrag in diesem Monat aufgefordert, „gemeinsam mit den Ländern darauf hinzuwirken, dass alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland verpflichtend mit ausführlicher Vor- und Nachbereitung mindestens einmal im Laufe ihrer Schulzeit eingebettet in den Unterricht ein ehemaliges Konzentrationslager der NS-Diktatur besucht haben“. Der bildungspolitische Sprecher der Fraktion, Thomas Jarzombek (CDU), hatte die Forderung damit begründet, „die Erinnerung an die Schrecken der Schoah bei den nachkommenden Generationen wachhalten“ zu wollen.

Die sieben großen Gedenkstätten weisen den Vorschlag mehrheitlich zurück. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, sagte WELT: „Freiwilligkeit ist eine Grundvoraussetzung demokratischer und historisch-politischer Bildung. Dieses Prinzip halten wir in den Gedenkstätten hoch.“

Hinter dem Ruf nach Pflichtbesuchen stecke manchmal die naive Vorstellung, dass KZ-Gedenkstätten „demokratische Läuterungsanstalten“ seien, sagte der Historiker weiter. „Die Forderung nach Pflichtbesuchen von KZ-Gedenkstätten wird häufig reflexhaft nach antisemitischen Vorfällen für Gruppen erhoben, von denen man fälschlicherweise annimmt, sie heilen oder immunisieren zu können.“ Damit Schüler in Gedenkstätten so betreut werden könnten, dass tatsächlich aus der Geschichte gelernt werden könne, bräuchte es einen deutlichen Ausbau intensiver und längerer Formate, so Wagner weiter.

Der für Sachsenhausen und Ravensbrück zuständige Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, sagte: „Sicher ist es begrüßenswert, wenn möglichst viele junge Menschen im Rahmen ihrer Schullaufbahn einen historischen Ort der NS-Verbrechen kennenlernen. Ein wichtiger Grundsatz der Bildungsarbeit in Gedenkstätten ist dennoch die freiwillige Entscheidung.“

Ein ehemaliges Konzentrationslager könne für junge Menschen eine emotionale Überforderung darstellen, die man niemandem aufzwingen sollte, sagte der Historiker. „Die Erfahrung zeigt, dass Zwang sich häufig kontraproduktiv auswirkt und ablehnende Haltungen eher verstärkt werden.“ Gedenkstätten wären aufgrund ihrer personellen und finanziellen Ausstattung außerdem überhaupt nicht in der Lage, qualifizierte Bildungsangebote in derart großem Umfang bereitzustellen.

„Wichtiges pädagogisches Prinzip der Freiwilligkeit“

Gabriele Hammermann, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, sagte: „Wir freuen uns, wenn Schülerinnen und Schüler die Gedenkstätte besuchen. Um einen Lerneffekt zu erreichen, sollten Besuche an KZ-Gedenkstätten auf so freiwilliger Basis wie möglich erfolgen. Dies läuft dem Gedanken von Pflichtbesuchen zuwider.“ Es sei wünschenswert, wenn Schulklassen nicht nur für „kurzzeitpädagogische Rundgänge“ kämen, sondern vermehrt längere Bildungsprogramme buchen würden, „bei denen sich intensiver mit der NS-Zeit und den jeweiligen Orten auseinandergesetzt werden kann“.

Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, sieht das anders. In Bayern ist der Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Gymnasiasten und Realschüler verpflichtend. „Wir machen hier sehr gute Erfahrungen mit einem in den Lehrplänen integrierten obligatorischen Besuch von Schülerinnen und Schülern“, sagte Skriebeleit WELT. „Diese historischen Orte tragen eine eminente Bedeutung in sich und sie verfügen über ein enormes pädagogisches Potenzial. Sie können in der Bewusstseinsentwicklung junger Menschen eine hohe Bedeutung haben.“

Der Kulturwissenschaftler schränkt allerdings ein, dass man in Flossenbürg bereits an Kapazitätsgrenzen komme. Wenn alle Schüler aller Schularten eine Gedenkstätte besuchen müssten, „hätten wir ein großes Thema bei der Betreuung durch qualifiziertes Personal“.

Oliver von Wrochem leitet die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Es bleibt wichtig, dass sich möglichst viele Menschen in jedem Alter mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzen und verstehen, dass diese Auseinandersetzung für das Handeln in der Gegenwart relevant ist“, sagte er. Allerdings betreffe dies nicht nur Schüler und Gedenkstättenbesuche wirkten „nicht automatisch immunisierend“. Eine Forderung nach Pflichtbesuchen sei „grundsätzlich eher schwierig“, weil sie die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich auf allen Ebenen und in allen Altersgruppen mit der NS-Herrschaft und ihren Folgen auseinanderzusetzen auf eine spezifische Gruppe verschiebe.

Die Gruppe der Schüler sei aber nicht ursächlich für die Zunahme von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus verantwortlich. Eine vollständige Freiwilligkeit der Besuche würde allerdings vermutlich dazu führen, dass deutlich weniger Schüler Gedenkstätten besuchen, sagte von Wrochem weiter. „Hier stößt das wichtige pädagogische Prinzip der Freiwilligkeit auf den wichtigen gesellschaftlichen Bildungsauftrag der Aufklärung über Staatsverbrechen im Nationalsozialismus und dessen Ursachen.“

Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, sagte WELT: „Ich befürworte, dass möglichst vielen Menschen ermöglicht wird, eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die NS-Verbrechen zu besuchen. Dabei wünsche ich mir, dass die Besuche unter Bedingungen stattfinden, die Lernprozesse real ermöglichen.“ Zwangsbesuche seien dazu nicht geeignet, sondern stünden vielmehr im Widerspruch zu dem gewünschten Ziel, sagte die Politikwissenschaftlerin. „Wenn wir möchten, dass unser Publikum bei uns lernt, demokratisch zu sein, müssen sie selbst demokratisch behandelt werden.“

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